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Interview zu Fluchterfahrungen und Asyl

Zwölf Tage, rund 3.000 Kilometer und im Gepäck nur das Notwendigste: Abdullah Abdulrahim flüchtete 2015 mit seiner Familie aus Syrien. Im miteinander-Gespräch mit Rainald Tippow, PfarrCaritas-Leiter und Nächstenhilfe-Flüchtlingskoordinator, über zivilgesellschaftliches Engagement, Doppelmoral und die Bedeutung von Heimat. Von Lukas CIONI

miteinander 7-8/2023

Abdullah Abdulrahim und Rainald TippowHerr Abdulrahim, wie sah Ihr Leben in Syrien vor Ihrer Flucht aus?
ABDULRAHIM: Ich lebte mit meiner Frau und zwei Kindern in einem Dorf bei Idlib und arbeitete in Aleppo. Meine Eltern sowie zwei von zehn Geschwistern starben bereits vor dem Krieg – dadurch lernte ich früh, auf eigenen Beinen zu stehen. Nach der Matura und dem 18-monatigen Militärdienst habe ich Rechtswissenschaft studiert und als Pharma-Vertreter gearbeitet. Es war ein gutes Leben in der Mittelschicht, doch als der Krieg kam, bestimmte Angst den Alltag in Syrien. Bei der Flucht vor dem Krieg und dem IS-Regime gab es keine Zeit zum Überlegen. Innerhalb von Tagen wurden die Wohnung vermietet und alle Waren sowie unser Auto verkauft – das Ziel war Europa. Zum gegenseitigen Schutz schlossen wir uns mit Bekannten zusammen, um die türkische Grenze zu passieren, doch der erste Fluchtversuch scheiterte. In einer Nacht Anfang August 2015 dann der zweite Versuch. In der Türkei angekommen, erweiterte sich die Gruppe auf 20 Personen, bevor es in einem übervollen Boot, welches durch eine Havarie in Seenot kam, nach Griechenland ging – mehrere Stunden musste ich im Meer schwimmen. Danach reisten wir über Mazedonien und Serbien nach Ungarn und Österreich. Die Flucht dauerte etwa zwölf Tage und kostete rund 10.000 Dollar pro Person.

 

Herr Tippow, wie lassen sich die vielfältigen Fluchtmotive von Menschen zusammenfassen?
TIPPOW: Sie reichen vom täglich zermürbenden und gefährlichen Beschuss über Terror, Verfolgung, Diskriminierung bis hin zur körperlichen, sexuellen oder psychischen Gewalt. In der Regel Lebensumstände, die wir uns in Europa nicht vorstellen können. Mich erschüttert, dass es in unserer aufgeklärten Welt derart menschenverachtende Gräueltaten gibt. Niemand
flüchtet leichtfertig.

"Es war ein gutes Leben in der Mittelschicht, doch als der Krieg kam, bestimmte Angst den Alltag in Syrien."

Was packt man für eine Flucht ins Ungewisse?
ABDULRAHIM: Kleidung und vor allem Personal-Dokumente. Als Erinnerung an ihren verstorbenen Vater hat meine Frau noch ein Erbstück – den Koran mit handschriftlichen Notizen ihres Vaters – mitgenommen. In Traiskirchen angekommen, wohnten wir eine Woche lang in einem Zelt, das bei schlechtem Wetter sehr instabil war. Durch die Diakonie Wohnungsvermittlung haben wir dann Helferinnen und Helfer aus Maria Anzbach, darunter
Familie Tippow, kennengelernt.
TIPPOW: Ich selbst lebe in der Gemeinde Maria Anzbach und hier gab es 2015 über
100 Personen, die helfen wollten. Das Pflegeheim St. Louise hat zudem einen Gebäudeteil zur Verfügung gestellt, der durch Freiwillige instand gesetzt wurde. Nach Fertigstellung nahmen wir mithilfe der Diakonie zwei Familien auf – eine davon war Familie Abdulrahim. Darin liegt, so
glaube ich, auch der Schlüssel gelungener Integration: die Aufnahme von Menschen in kleine, überschaubare Gemeinschaften. Herr Abdulrahim engagiert sich beim Roten Kreuz, gehört zur Freiwilligen Feuerwehr und absolviert bei der ÖBB eine völlig neue Berufsausbildung. Seine Frau arbeitet nach einer durch die Familie selbst finanzierten Ausbildung als Krankenpflegerin. Beide leisten ihren Teil für die Gesellschaft – eine Win-Win-Situation.

 

Abdullah Abdulrahim

 

Wie geht es Ihnen heute in Maria Anzbach?
ABDULRAHIM: Da ich auch aus einem Dorf komme, gefällt es mir hier gut. Ich genieße die Natur, esse gerne Knödel und mag das Gemeinschaftsgefühl bei regionalen Festen sowie den Dialekt. Während Reparaturarbeiten sagte ein ÖBB-Kollege kürzlich: „Hier wird alles neich.“ Ich habe dann versucht, das Wort „neich“ zu googeln – ohne Erfolg. Nun weiß ich aber, dass es „neu“ bedeutet. Daher lerne ich nun zwei Sprachen: Deutsch und den österreichischen Dialekt.

Abdullah Abdulrahim und Rainald Tippow

Was bedeutet für Sie Heimat?
ABDULRAHIM: Heimat ist für mich Familie, Freunde und Maria Anzbach – das ist meine „neiche“ Heimat. Trotzdem fehlen mir Syrien, mein Geburtsort und die Menschen. Mit meinen Geschwistern stehe ich aber wöchentlich in Kontakt, das hilft. Zudem ist die Familie Tippow zu einem Teil meiner Familie geworden.

"Heimat ist für mich Familie, Freunde und Maria Anzbach – das ist meine „neiche“ Heimat."

Wie beurteilen Sie die asylrechtliche Situation in Österreich?
ABDULRAHIM: Zu Beginn war es ohne Sprachkenntnisse schwer. Mittlerweile hat sich die Situation verbessert und die meisten Beamten sind hilfsbereit. Ich bemerke aber, dass gegenüber geflüchteten Personen aus der Ukraine medial und politisch ein Unterschied besteht.

TIPPOW: Ein rechtlicher ist, dass ukrainische Flüchtlinge einen Vertriebenen-Status besitzen. Dadurch tauchen sie nicht in der Asylstatistik auf. Hier wird also mit Zahlen gearbeitet, die nicht die Realität abbilden. Zudem ermöglicht der Status den Zugang zum Arbeitsmarkt, eine höhere Finanz-Unterstützung und bessere Sozialleistungen. Daraus resultiert ein Ungleichgewicht. Eine Doppelmoral, welche auch medial zu spüren ist.

Rainald Tippow

Welche Verbesserungsvorschläge haben Sie hier?
TIPPOW: Es braucht europaweit einheitliche, rasche und rechtsstaatlich-faire Asylverfahren sowie die Möglichkeit einer Antragstellung vor Ort ohne das Risiko einer lebensgefährlichen Reise – denn das fördert ein illegales Schlepper-System. Die Vergangenheit zeigt: Wir brauchen Menschen, um den Wohlstand zu sichern. Politisch und medial werden Flüchtende oft als anonyme Masse oder „Welle“ dargestellt – eine gefährliche Entpersonalisierung. De facto zeigt sich, dass Beispiele von gelungener Integration überwiegen, in der öffentlichen Wahrnehmung aber gefühlt die negativen Seiten dominieren. Es bedarf keiner Entmenschlichung und keiner Pauschalisierung, sondern eines offenen Diskurses über die humanitäre Aufnahme auf der einen und die Aufnahme einer Person aufgrund Ihrer Qualifikationen – Beispiel Pflegenotstand – auf der anderen Seite.

ABDULRAHIM: Menschen, die hier etwa seit sieben Jahren ohne offiziellen Bescheid leben, haben keine Perspektive oder Job-Chancen und werden in die Schwarzarbeit gedrängt. Dieser Umstand sollte verbessert werden. 2017 wurde zudem mein drittes Kind in Österreich geboren – trotzdem ist es seit sechs Jahren offiziell staatenlos. Hintergrund ist hier das Recht österreichischer Staatsbürger, einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen – und das hätte auch Einfluss auf unsere Asylbescheide. Trotzdem finde ich es merkwürdig.

 

Wie sieht Ihre Zukunft aus?
ABDULRAHIM: Wir erwarten unser viertes Kind. Beruflich arbeite ich weiter bei der ÖBB, mache praktische und theoretische Kurse und wünsche geflüchteten Menschen, dass sie mit ebenso viel Herzlichkeit empfangen werden wie wir in Maria Anzbach – unserer „neichen“ Heimat.

Abdullah Abdulrahim und Rainald Tippow

Informationen für Interessierte unter: ▶ PfarrCaritas und Nächstenhilfe

 

 

 

 

 

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