Mag. Lukas Cioni
Redaktionsleiter / Chef vom Dienst
miteinander-Magazin
Stephansplatz 6
1010 Wien
Tel.: +43 1 516 11-1500
Sie haben eine neue Adresse? Schreiben Sie uns hier oder rufen uns unter DW 1504 an.
Seit fast 20 Jahren lebe ich nun in Österreich. Zu den festen Ritualen bei Heimatbesuchen
zählt unter anderem der Besuch bei "meinem" Herrenfriseur, bei "Kapper Kurt". Nicht, dass er ein ausgewiesener Meister an der Schere wäre. Er selbst sieht aus, als täte ihm ein guter Haarschnitt einmal gut. Auch verbindet uns keine Freundschaft. Man kann bei ihm einfach in eine eigene Welt, in ein ganz besonderes Soziotop abtauchen.
Die Wartenden wie Schulbuben auf unbequemen Plastikstühlen aufgefädelt, die Blicke entweder auf zerlesene Auto- Zeitschriften oder auf Kurt gerichtet, der gerade – die obligatorische "Ernte 23" im Mundwinkel – einen Kunden bearbeitet. Keine lästigen Fragen nach Stilwünschen, wichtiger ist das Gespräch. Viel Tratsch, vom Angelverein bis zur hohen Politik, vermischt mit Persönlichem, mit familiären Katastrophen und Glücksmomenten. Nach 20 Minuten und mit einem beiläufigen "Gruß zu Hause!" im Gepäck verlasse ich – geräuchert und selig – den kleinen Salon.
Derzeit ruft die große Krise große Fragen und große Zweifel hervor: Lässt Corona die Gesellschaft zerfallen? Ist es im Sinne des Gemeinwohls, sich zu impfen oder doch eher, gegen eine Impfpflicht auf die Straße zu gehen? Was hält uns eigentlich noch zusammen?
„Zusammenhalt – das ist ein Imperativ. Eine Aufforderung, der man täglich durch Übung nachkommen sollte."
Wenn die Fragen übergroß werden, lohnt der Blick aufs Klein-Klein. So wie bei "Kapper Kurt": Wer hier eintaucht, taucht in Schicksale, Lebensgeschichten und -dramen ansonsten völlig fremder Menschen ein, die der pure Zufall oder der strenge Haarschneidebefehl der Frau in
der kleinen, verrauchten Höhle zusammengeführt hat. Fremde, also all jene, die nicht schon seit Jahren hier ein- und ausgehen, werden unprätentiös integriert, ins Gespräch hineingezogen. 20 Minuten gespürter Zusammenhalt, gefühlte Solidarität unter einander sonst Fremden.
Und so lehrt der Besuch bei Kurt: Zusammenhalt im Großen funktioniert nur, wenn er verschränkt ist mit all den kleinen Aufmerksamkeiten des Alltags, mit all den Momenten, in denen wir einander mitleidend und mitlachend begegnen – oder in denen wir auch mal miteinander schweigen und Auto-Zeitschriften durchblättern.
Zusammenhalt – das ist ein Imperativ. Eine Aufforderung, der man täglich durch Übung nachkommen sollte. Oder in Form eines Besuchs bei "Kapper Kurt". Kurt ist im Übrigen Anfang Dezember verstorben. Bis zuletzt hatte sein Salon geöffnet – diese kleine Welt, in der die
große ihre Probe hält.