Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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Es war mein erster Schultag, die erste Stunde in der Volksschule. Wir standen zu sechst um große Tische herum. Ich kannte kaum jemanden. Auch nicht meinen Sitznachbarn. Die Lehrerin begrüßte uns, dann durften wir uns setzen. Genau in dem Moment griff ich nach der Stuhllehne meines Tischnachbarn und zog ihm den Stuhl weg. Er donnerte zu Boden, schlug mit dem Kopf auf den Stuhl. Fast vier Jahrzehnte schlummerte diese Geschichte im hintersten Winkel meiner Erinnerungen, bis sie vor einiger Zeit plötzlich wieder an die Oberfläche kam. Ich berichtete meinen (Schul)Kindern davon und erntete – zu Recht – entsetzte Blicke und ein empörtes „Papa!“
„Das Gute zu leben ist nichts Selbstverständliches. Im Kleinen, Familiären,
ebenso wenig wie im Großen, Gesellschaftlichen.“
So schwer es ist, immer zu wissen, was das Gute ist und wie man es in konkreten Situationen leben kann, so leicht ist es manchmal – wie im Fall meines armen Mitschülers – zu sagen, was das Falsche, das Schlechte ist. Einem anderen Menschen bewusst zu schaden zum Beispiel. Als Kind waren mir diese Kategorien des Guten und des Falschen oder gar Bösen relativ egal. Ich lebte, wie es mir von Eltern und Freunden vorgelebt wurde. Manchmal, wie im Fall des Stuhls, verschoben sich diese ungenauen Grenzen und ich bekam die Konsequenzen zu spüren: in Form von Schimpfe und schlechtem Gewissen. Heute weiß ich daher auch: Das Gute zu leben ist nichts Selbstverständliches. Im Kleinen, Familiären, ebenso wenig wie im Großen, Gesellschaftlichen. Immer wieder gerate ich in Konflikte, in denen „das Gute“ sich nur schwer ausmachen lässt. Ist es richtig und gut, im eigenen Leben Zufriedenheit anzustreben und zu verspüren, auch wenn diese Zufriedenheit sich einem privilegierten europäischen Lebensstandard auf Kosten eines Großteils der restlichen Weltbevölkerung verdankt?
Gern wird behauptet, der Glaube gibt verlässlich vor, was das Gute sei. Ein Leben nach Gottes Geboten zum Beispiel. Aber um dieses Gute zu leben, genügen keine Gebote – man muss es spüren: die Wärme des Richtigen oder die Kälte des Falschen. Die Freude im Herzen oder den Schmerz des schlechten Gewissens, wenn man dagegen verstößt. Das Faszinierende an unserem Glauben ist jedoch, dass uns Gott immer wieder zutraut, neu anzufangen, nicht im Sumpf des Schlechten zu versinken - wenn wir in Folge bereit sind, auch einander zu vergeben und um Vergebung zu bitten. Mein Tischnachbar hieß übrigens Lars. Wir wurden später noch Freunde. Im Laufe von inzwischen rund 40 Jahren haben wir uns aus den Augen verloren. Er lebt weiterhin am Niederrhein. Irgendwie reizt es mich nun, ihn einmal zu kontaktieren – und ihn um Entschuldigung zu bitten.
miteinander-Chefredakteur Dr. Henning Klingen