Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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„Wir haben wieder einen Urenkel bekommen. Das ist gebührend gefeiert worden.“ So lautete 2016 der letzte Tagebucheintrag meines Großvaters. Wenig später starb er im gesegneten Alter von 96 Jahren. Der Urenkel, der dort in preußisch knapper Korrektheit vermeldet wurde, war mein Sohn. Ein Leben verging, das andere kam. So lebte er, so lebte auch meine Großmutter, die knapp zwei Jahre später starb. Gierig nach Leben, danach, nichts zu verpassen, an allem Anteil zu nehmen. Heute ist ihr Haus lange verkauft, das ewig quietschende Gartentor getauscht, der Garten umgestaltet. Doch immer noch durchzuckt mich der Schmerz des Vermissens, wenn ich daran mvorbeifahre. Sie fehlen mir.
Warum schmerzt eine Leerstelle selbst nach so vielen Jahren noch? Ich glaube, es hat etwas mit der Sehnsucht nach Ganzheit zu tun. Wer um Menschen trauert, trauert immer auch darum, dass mdie Fassade des eigenen Lebens Risse bekommen hat. Ähnliche Verlustanzeigen des Lebens treten ein, wenn sich langjährige Freundschaften lösen, wenn die Kinder sich aus der familiären Enge befreien, mwenn Partnerschaften in die Brüche gehen: Immer fehlt am Ende etwas im eigenen Leben, das sich nach Ganzheit sehnt. Vielleicht ist das das große Versprechen des Glaubens: dass die vielen Fragmente und Fragmentierungen des Lebens, die zerstreuten Mosaikstückchen am Ende nicht unverbunden bleiben, sondern zu neuer Einheit kommen. Ein
solcher Glaube kann trösten – aber er kann nicht vollends kitten, was unwiederbringlich verloren ist: das Leben eines geliebten Menschen. Friedhöfe waren für meine Großeltern nie Orte der Bedrückung. Ich erinnere mich noch gut an gemeinsame Spaziergänge und Blicke in die Leichenhalle: Wer ist wieder gestorben? Oh, der ist ja schon ganz eingefallen! Die ist aber schön zurecht gemacht! … Der Tod war ihnen auf seltsame Weise ein Vertrauter. Manchmal stelle ich mir vor, wie mein Opa mit Gott feilscht, ihm noch ein paar Lebensjährchen abzutrotzen versucht – und wie meine Oma ihn kopfschüttelnd maßregelt: „Der Herrgott hat schließlich noch anderes zu tun.“ Bei ihrer Beerdigung habe ich einen Vierzeiler von Willi Bruners zitiert: „Einmal werden die Steine leicht auf unseren Gräbern nliegen / und leicht werden wir uns erheben aus dem Staub und über die Schwellen gehen mit Flügelschritt. / Ein Wind wird uns forttragen in den Kreis der Wartenden / und Brot und Wein gehen von Mund zu Mund.“ Einmal wird das so sein. Bis dahin mischen sich Vermissen, Schmerz und lächeln.
Das, was wir Leben nennen.
miteinander-Chefredakteur Dr. Henning Klingen