• Ausgabe 10-11 / 2015

    AUFRUF ZUR BARMHERZIGKEIT

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Mag. Lukas Cioni

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Unsere Themen im Jahr 2015

„Weil man anders nicht zur Ruhe kommt …“

Bereits als Jugendlicher spürt er den Ruf Gottes. Doch in Ungarn verfolgen die Kommunisten die Kirche. In Österreich findet er politisches Asyl und den Mut, Priester zu werden.

 

„Danke, dass Sie vom Rosenkranz als betrachtendem Gebet gesprochen haben!“, sagt der Altpfarrer von Illmitz beim Einkehrtag. „So zu beten, habe ich als Bursch gelernt, in Einzelhaft.“ Wochen später erzählt mir Msgr. Josef Hirschl demütig und lebendig von seinem Weg. 1935 in Ungarn im großteils kroatischen Szentpéterfa, an der Grenze zu Österreich, geboren, ist er sechs, als der Vater stirbt. Dessen Bruder heiratet die Mutter, wird den vier Buben zum Vater. Josef, der Dritte, kümmert sich viel um die kleine Halbschwester.

 

Berufung oder freieres Leben?

Nach acht Jahren Grundschule spürt er die Berufung zum Priester. Für ein Jahr ist er Hausknecht im Priesterseminar in Szombathely, lernt Latein nach, wird 1950 ins Knabenseminar und bischöfliche Gymnasium aufgenommen. 1951 lösen die Kommunisten alle kirchlichen Schulen auf. Das staatliche Gymnasium weist ihn ab. Josef schließt sich der Dorfjugend an: arbeiten, singen, reden – ein freieres Leben. Er betet, Gott möge es fügen, dass er nicht studieren kann – er will arbeiten, heiraten. Eltern, Pfarrer, Bischof sagt er nichts, betet weiter, geht jeden Tag in die Kirche.

 

„Hilfe von oben“

Jede Woche besucht er Priesterseminar und Hochschule in Szombathely. Im Mai 1952 bittet ihn ein Professor um Hilfe. Er hat die fast 80-jährige Mutter des seit 1948 inhaftierten Primas von Ungarn, József Kardinal Mindszenty, zu Gefängnisbesuchen nach Budapest begleitet. Nun wird er bespitzelt, ist in Gefahr. Josef möge einen Fluchthelfer in seinem Dorf in der gesperrten Grenzzone kontaktieren. Er überbringt Florian, den er kennt, die Bitte, wird schroff abgewiesen, doch zurückgerufen Tage später weckt Florian ihn: „Fahr per Rad nach Szombathely, ein Fuhrwerk ist unterwegs.“

 

Im Seminargarten hilft Josef, den Professor im improvisierten doppelten Boden des Wagens unter Waren zu verstecken. Sie erreichen den Wald vor dem Dorf – Florian ist nicht da. Wütend fährt der Fuhrmann weiter, riskiert die Kontrolle – aber die Grenzsoldaten sind durch einen Unfall abgelenkt, „Hilfe von oben“. In einem Hof laden sie Waren und Professor ab, treffen Florian. „Du musst mit zur Grenze!“, befiehlt der und geht voran: „Ihr macht alles wie ich: gehen, hinlegen, am Boden weiter …“ Sie queren den Weg hinter den Höfen, liegen im Graben, als Lampen aufleuchten. „Werden wir aufgegriffen?“ Die Soldaten sind vorbei, Florian flüstert: „Liegen bleiben!“ – eine zweite Patrouille, nach der dritten erst kriechen sie weiter, erreichen eine Furt der Pinka. Florian

und der Professor queren sie.

 

Josef muss allein zurück. Beim Weg hinter den Höfen will er die Schuhe ausziehen – Krämpfe in den Beinen zwingen ihn, liegen zu bleiben. Da erst bemerkt er zwei Soldaten, die auf Strohballen rasten, nun aufstehen – er wäre direkt in ihre Gewehre gelaufen! Die Mutter fragt: „Kind, wo warst Du?“, ahnt es.

 

Beten ist lebensrettend

Bald danach werden im Dorf viele verhört. Florian, zweimal halbtot geschlagen, gibt nichts preis. Im August doch aufgedeckt, werden er und die Fuhrwerker verhaftet. Josef legt sein Leben in Gottes Hand. Die Mutter weckt ihn, als Soldaten ihn abholen. Die behandeln die Dorfleute menschlich, öffnen die Zellentüren: Sie sollen sich absprechen, im Verhör nicht alles, aber alle das Gleiche zugeben – nur zwei von 14 Fluchthilfen! Überstellung ins Kellerlabyrinth des Staatspolizeigefängnisses Szombathely: zwei Monate strengste Einzelhaft, Verhöre, unmenschliche Behandlung. Die feuchte Betonzelle: 2,5 mal 1,5 m, fensterlos, Dämmerlicht aus Löchern im Blech über der Türe, Holzpritsche, Leintuch. Stille – außer, wieder einer verliert die Nerven, schreit, wird abgeführt.

 

6 Uhr wecken, waschen einzeln, ohne Handtuch. Essensrationen: 1 Becher „Kaffee“ bzw. leere Suppe, je eine halbe Schnitte Brot. Tagsüber: stehen, gehen, sitzen. 22 Uhr: hinlegen. Kopfschmerz vor Hunger, Josef hält das „Nichtstun“ nicht mehr aus. Außer Hose und Hemd ist ihm alles genommen – auch der Rosenkranz. Doch den kann er an den Fingern beten. „Das Gebet war lebensrettend!“ Josef betet langsam – einen Rosenkranz oft den halben Tag. „Wenn ich nicht mehr auf die Worte achte, bei den Bildern verweile, sie betrachte, werden die ‚Geheimnisse‘ gegenwärtiges Geschehen, lebendig, berührend, heilend. Ich wartete nicht mehr aufs Essen.

 

Die Zeit war nicht mehr Belastung, sondern Geschenk.“ Schließlich Prozess am Bezirksgericht: die Männer zu 3–4 Jahren Kohlebergwerk verurteilt, Josef als „fast noch ein Kind“ zu einem Jahr „Umerziehungsheim“ in Budapest. Überstellungsfahrt – ein Fuhrwerker bekennt: „Ich hab mir die Finger fast wundgerieben beim Rosenkranzbeten!“

 

Flucht vor der Berufung?

Im Oktober 1953 kommt Josef nach Hause, beginnt 1954 in Györ den Vorbereitungslehrgang für das Priesterseminar mit Freude, betet aber bald, wieder „herauszukommen“. Nach dem Sommer verabschiedet er sich vom Bischof: Er habe den Eindruck, nicht berufen zu sein. Im Gebet danach trifft es ihn wie ein Blitz: „Ich bin einer Täuschung erlegen!“ – „Ich war aber zu feig oder stolz, um zurückzugehen.“ Josef will Arbeit, ein Mädchen finden, kommt aber nicht zur Ruhe, denkt an Flucht: „Gelingt sie, bin ich ein freier Mensch – auch Gott muss einsehen, dass ich drüben ohne Matura und Deutsch nicht Priester werden kann! Scheitert sie, ist alles egal.“

 

Bei der Grenzerkundung wird er von Arbeitern gesehen, hat Angst zurückzugehen, schlüpft durch den ersten Stacheldrahtverhau, löst im Zwischenstreifen keine Mine aus, bleibt im zweiten Verhau hängen, muss zurück, erklettert einen Zaunpfahl, springt in die Freiheit.

 

Freie Wahl

Es ist August 1955. Josef spricht Leute am Feld an, die ihn zur Gendarmerie Eberau bringen. Ansuchen um politisches Asyl – 24 Stunden Schubhaft in Güssing. Der Pfarrer von Gaas kennt ihn, schickt ihn zum Draßburger Pfarrer, einem Dissidenten aus Szentpéterfa. Der bringt ihn einem kinderlosen Ehepaar „als Sohn“ und verständigt Dr. Josef Vecsey in der Schweiz, der nach zwei Tagen da ist: Ihm hat Josef drei Jahre zuvor zur Flucht verholfen. Die beiden Priester ermöglichen ihm die Matura am ungarischen Gymnasium in Innsbruck – danach soll er frei wählen. Als Josef in den Baracken auf der Hungerburg die seelische Verwahrlosung der Flüchtlingskinder erlebt, entscheidet er sich, Priester zu werden. Im Zug hört er vom Aufstand in Ungarn. 1956 tritt er ins Burgenländische Priesterseminar ein, lernt schnell Deutsch, studiert Theologie, wird 1961 zum Priester geweiht.

 

1963 trifft er erstmals seine überglückliche Mutter wieder, kann sie ab 1964 monatlich besuchen, feiert das 25- und das 50-jährige Priesterjubiläum auch im Heimatdorf.

 

Gott ruft und berührt

„Lehrt Not beten?“, frage ich Josef Hirschl. „Nicht automatisch. Erst habe ich Gott Vorwürfe gemacht, später erkannt: Gott lässt uns Schweres erleben, damit wir Wichtiges erfahren. In der Haft habe ich den Rosenkranz als betrachtendes Gebet erfahren, das heilt, Geborgenheit gibt.“ Wie Miteinander neu gelingt? „Das Evangelium sagt: nicht im Zorn verharren, aufeinander zugehen, um Verzeihung bitten und selbst verzeihen – das gibt mehr Erfüllung!“

 

Zum Berufungsweg bezeugt Msgr. Hirschl: „Wenn Gott jemanden ruft, wird er ihn durch Ereignisse und Begegnungen immer wieder berühren. Wir sehen die Dinge dann von einer anderen Seite, spüren: ‚Ich muss, ich soll …‘ – weil man anders nicht zur Ruhe kommt, nicht zufrieden ist.“

 

Raphaela Pallin

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