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"Checken Sie regelmäßig bei sich selber ein"

Die Theologin, Autorin und Salvatorianerin Melanie Wolfers über ihr neues Buch "Freunde fürs Leben" und gesellschaftliche Implikationen einer "Freundschaft mit sich selbst"

 

 

Immer höher, schneller, weiter soll es gehen. Alles muss optimiert und gesteigert werden: Dieser Druck - so die Theologin, Seelsorgerin und Autorin Sr. Melanie Wolfers - stellt eine "heillose Überforderung" dar, die immer häufiger in Depressionen und Burnout mündet: "In unserer westlichen Kultur erfährt sich der Mensch als chronisch ungenügend und unzureichend", so die Ordensfrau im "miteinander"-Interview. Ein möglicher Ausweg liegt laut Wolfers darin, "Freundschaft mit mir selbst" zu schließen und sich so vom "Damoklesschwert, den Anforderungen nicht zu genügen", zu befreien. Am 11. Oktober 2016 ist das neue Buch der Theologin, Seelsorgerin, Beraterin und Autorin mit dem Titel "Freunde fürs Leben. Von der Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein" erschienen.

 


 

Welche Erfahrungen liegen Ihrem Buch zugrunde? Was gab den Ausschlag zu diesem "Lob der Freundschaft"?

 

In meiner seelsorgerlichen Tätigkeit mache ich die Erfahrung, dass wir Menschen uns selbst oft im Weg stehen. Manche ignorieren in fahrlässiger Weise die Signale ihres Körpers, der nach Erholung lechzt anstatt pausenlos funktionieren zu müssen. Andere gehen begeistert in ihren Aufgaben auf - und irgendwann gehen sie in ihnen unter. Und wir alle haben Eigenschaften und Dinge, die wir an uns selbst nicht leiden können. In der Folge gehen wir oft äußerst hart oder abwertend mit uns um. Daher habe ich mich gefragt: Wie können wir besser mit uns selbst klarkommen und Freundschaft schließen mit uns selbst? Ich bin davon überzeugt, dass dies zum Wichtigsten im Leben gehört! Denn schließlich sind wir selbst der Mensch, mit dem wir vom ersten bis zum letzten Atemzug zusammenleben.

 

Ihr Lob der Freundschaft halten Sie ja bewusst einer Krisendiagnose entgegen. Welche Krisenmomente machen Sie zeitdiagnostisch aus?

 

Ein erstes Krisenmoment: In unserer modernen Gesellschaft herrscht ein irrsinniger (Selbst)Optimierungsdruck. Immer höher, schneller, weiter soll es gehen. Diese ökonomische Logik hat alle Lebensreiche geflutet. "Effizienter arbeiten", "Gelassener leben", "Bauch weg" rufen einem Werbespots und Buchtitel entgegen und lassen keinen Aspekt des Lebens aus. Jeder soll als Unternehmerin bzw. als Unternehmer das eigene Leben managen und für sein Glück auf den Bildungs-, Arbeits- und Beziehungsmärkten sorgen. Dieser Druck, ständig an sich arbeiten und sich verbessern zu müssen, ist eine heillose Überforderung! Und das zeitgenössische Credo "Ich soll immer besser werden, denn die Möglichkeiten sind da!" eine zerstörerische Illusion, die sich fatal auswirkt auf die Beziehung zu sich selbst und zur Umwelt. Um zwei bekannte soziologische Buchtitel zu zitieren: Das "unternehmerische Selbst" (Ulrich Bröckling) ist oft ein "erschöpftes Selbst" (Alain Ehrenberg), was auch die rasant steigenden Raten von Depression und Burnout zeigen. Ein zweites Krisenmoment: Ich glaube, dass diesem Ego-Tuning auch eine spirituelle Krise zugrunde liegt. Dass die gesellschaftlich konditionierten Ängste "Ich bin nicht gut, schön, erfolgreich, genug..." auch einer geistigen Not entspringen, nämlich: In unserer westlichen Kultur erfährt sich der Mensch als chronisch ungenügend und unzureichend. Als unverbunden und vereinzelt. Dies manövriert viele in Angst und Optimierungsdruck, in Aggression oder maßlose Besitzgier hinein. Wenn ich hingegen erahne, dass ein göttliches Du mich und alle Menschen von innen her bejaht, dann befreit das von dem Damoklesschwert, den Anforderungen nicht zu genügen. Dann reift ein tragfähiges Ja zu sich selbst heran.

 

Ein Freund ist jemand, mit dem ich mich auseinandersetze, der meinen Horizont durch andere Sichtweisen weitet, dessen Widerspruch ich vielleicht gar als bereichernd empfinde - wie kann ich mir selbst ein solcher Freund sein? Anders gefragt: Wie verhalten sich "externe" Freundschaften zur Freundschaft mit mir selbst?

 

Nicht nur die Begegnung mit anderen, sondern auch die Begegnung mit sich selbst kann ganz schön herausfordernd, erhellend und aufstöbernd sein. Sei es, wenn man sich dunklen Kapiteln der eigenen Geschichte zuwendet anstatt sie dauerhaft unter den Teppich zu kehren. Wenn man der Sprache des Körpers und der Gefühle, der Träume und Ängste ernsthaft Gehör schenkt. Oder wenn man auf die leise Stimme des Herzens lauscht und auf die substanziellen Fragen, die auftauchen, wenn man mit sich allein ist - Fragen, die auch ein beunruhigendes Potenzial in sich tragen können. Dessen ungeachtet: Wir leben davon, in Beziehungen mit anderen zu stehen! Ein besonderer Reichtum ist, wenn ich um einen guten Freund oder eine echte Freundin an meiner Seite weiß. Jemand, der mich herausfordert und in Frage stellt, der mir Fehler nachsieht und sich mit mir freut, wenn mein Leben im Fluss ist. In einer solchen Beziehung kann ich erfahren: "Ich darf sein, wie ich bin. Und gerade deswegen muss ich nicht so bleiben, wie ich bin, sondern kann über mich hinauswachsen. Gerade deswegen kann ich zu dem Menschen werden, der ich sein kann." Eine solche Freundschaft mit einem anderen Menschen vertieft die Freundschaft mit sich selbst. Und umgekehrt.

 

Was hindert uns daran, mit uns selbst befreundet zu sein?

 

Eine Freundschaft lebt von echtem Interesse aneinander und davon, den Kontakt zu pflegen. In ähnlicher Weise gilt dies für die Freundschaft mit sich selbst. Zwar seufzen viele sehnsüchtig: "Hätte ich doch mehr Zeit für mich!", doch häufig setzen sie ihren Wunsch nicht in die Tat um. Denn sich fern von Trubel und Geschäftigkeit mit sich selbst zu verabreden weckt oft Widerstände, etwa: Will ich überhaupt zu mir zurück? Was finde ich dort? Und wer ist dort? - Karl Valentin bringt es launig auf den Punkt: "Morgen gehe ich mich besuchen. Hoffentlich bin ich zu Hause!" Ich vermute, dass sich ganze Fußballstadien füllen ließen mit pausenlos aktiven 'Busyholics', die durch ihr permanentes Beschäftigtsein ein Treffen mit sich selbst, mit schwierigen Gefühlen und belastenden Gedanken vermeiden wollen. Als ob uns die Wahrheit unseres Lebens nicht einholen könnte, solange wir keine Zeit haben...

 

Die Diagnose einer prekären Lebensweise scheint heute Allgemeingut zu sein: Menschen erfahren ihren beruflichen Alltag, ihre Belastung durch Familie/Kinder etc. als Belastung und Stress. Sie drohen, das Gefühl für sich selbst zu verlieren. Lässt sich dieser Befund auch statistisch bzw. wissenschaftlich belegen?

 

Allein in den vergangenen Tagen habe ich zufällig zwei Artikel gelesen, in denen über entsprechende Studien berichtet wird: Michael Schulte-Markwort, ärztlicher Direktor in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie und Autor des Buches 'Burnout-Kids', beobachtet, dass Burnout bei Kindern und Jugendliche besorgniserregend zunimmt. Ein anderer Artikel berichtete, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO prognostiziert, dass Depression im Jahr 2020 weltweit die häufigste Erkrankung sein wird. Vielfach durch Erschöpfung bedingt.

 

Wenn es äußere Strukturen gibt, die mich behindern in meiner Entfaltung, in meinem Glück, so könnte ja ein direkter Impuls lauten, diese zu verändern. Ist insofern der Rat, sich selbst Freund zu werden, nicht ein "kontraproduktiver" Rat, da er nicht zur Beseitigung des eigentlichen Problems führt, sondern dazu, dieses einfach besser zu ertragen?

 

Nein! Zweifelsohne spiegeln der allgegenwärtige Zeit- und Technikstress sowie der Leistungsdruck ein gesellschaftliches Strukturproblem wider. Daher ist es vor allem auch eine gesellschaftliche Aufgabe, an den Motoren der permanenten Beschleunigung anzusetzen und beispielsweise Rahmenbedingungen zu entwickeln, die auch den "Zeitwohlstand" im Blick haben. Doch wer verändert diese Rahmenbedingungen? - Allein Menschen verändern Strukturen. Mit meinem Plädoyer für die Freundschaft mit sich selbst will ich Menschen also nicht fit machen, um reibungsloser in den Strukturen funktionieren und die Probleme besser kompensieren zu können. Vielmehr können Menschen mit einer guten Selbst-Beziehung kraftvoll und entschieden handeln und sich gut mit anderen vernetzen, um Strukturen zu verändern.

 

Aus welchen Quellen speist sich "Freundschaft mit sich selbst"?

 

Drei Stichpunkte: Echtes, wohlwollendes Interesse an sich selbst, was auch heißt, regelmäßig bei sich selbst einzuchecken. Frieden schließen mit den dunklen Kapiteln der eigenen Lebensgeschichte, mit tiefsitzenden Kränkungen und mit eigener Schuld. Um die Kraft der Sehnsucht wissen, also um das, was einen antreibt. Was einem wirklich wirklich wichtig ist. Dies gibt Orientierung und eröffnet den Weg zum Sinn des eigenen Lebens

 

Welche Rolle spielen die "großen Fragen" im Leben bei der Frage nach einem Leben in Freundschaft mit sich selbst? Muss man auf diese Fragen eine Antwort haben, um ganz bei sich zu sein, oder geht es darum, diese Fragen überhaupt erst zuzulassen in seinem Leben?

 

Wir Menschen bleiben unter unserem Niveau, wenn wir nur für Besitz oder Konsum, Erfolg oder Gesundheit leben. Die großen Fragen wie: "Wer bin ich? Wofür ist mein Leben gut? Woher komme ich und wohin geh ich?" können uns wie ein Weckruf darauf aufmerksam machen, dass unser Leben einmalig ist. Dass wir uns in unserem Leben nicht vertreten lassen können. Vielmehr gilt für jede und jeden Einzelnen: Ich bin gefragt, dem Leben und seinen Herausforderungen zu antworten. Auf die großen Fragen gibt es keine abschließenden Antworten. Wer meint, im Besitz solcher Antworten zu sein, verabsolutiert eine Teilwahrheit. Ist ein Fundamentalist. Es geht denke ich darum, diese Fragen immer wieder zuzulassen. Immer wieder neu aufzubrechen. Stets neu aufbrechen, dies ist übrigens ein Kennzeichen des biblischen Glaubens.

 

Ist Religion/Religiosität/Spiritualität stets ein Faktor, der Befreundung mit sich selbst befördert, oder gibt es auch eine Art "toxische" Religiosität (man denke etwa an die protestantische Ethik, die ja nicht zuletzt einem neoliberalen Denken Vorschub geleistet hat!)?

 

Selbstverständlich kann Religiosität toxisch wirken und zur Deformation von Menschen und Gesellschaften beitragen. Genügend Beispiele in Vergangenheit und Gegenwart gibt es ja. Ein Beispiel nennen Sie: den von Max Weber analysierten Bedingungszusammenhang von der Leistungsethik des asketischen Protestantismus und dem Geist des Kapitalismus. Ein anderes Beispiel sind Spiritualitätsströmungen, die eine ausschließliche Versenkung ins eigene Ich lehren und den Blick für den Anderen vernebeln. Mittels meditativer Techniken lernt man, die Augen zu schließen, die angesichts der allzu großen gesellschaftlichen Herausforderungen schmerzen - und macht sich damit letztlich zum Komplizen der herrschenden Gleichgültigkeit oder gefühlten Ohnmacht.

 

Welche alltagstauglichen Tipps können Sie geben, um - wie Sie schreiben - "wieder bei sich selbst einzuchecken"? Gibt es eine Art 10-Punkte-Plan zur Befreundung mit sich selbst?

 

Drei Anregungen, wie man sich regelmäßig mit sich und der Stille verabreden kann: 1. Viele finden es hilfreich, zwei Stunden in der Woche medienfrei und ohne Arbeit mit sich allein zu verbringen. Manche gehen dann spazieren, andere basteln am Motorrad herum, machen Musik und glaubende Menschen beten. 2. Die im Alltag verstreuten Zeitsplitter nutzen, um aus dem Funktionsmodus auszusteigen und bei sich selbst einzuchecken, etwa der Gang zum Kaffeeautomaten, das Warten auf den Bus... 3. Am Abend nicht nur fernsehen, sondern auch "nahsehen": Sich den zurückliegenden Tag innerlich vor Augen holen und ihn nachklingen lassen: Was war? Was ist? Was führt zu mehr Leben?

 

Weitere Tipps wären:

 

a) Sich wie Steve Jobs jeden Morgen beim Blick in den Spiegel fragen: "Wenn heute der letzte Tag meines Lebens wäre, würde ich das tun wollen, was ich heute tue?" Diese Frage hilft, das Klein-Klein des Alltags aufzubrechen.

 

b) Die Fähigkeit pflegen, tief zu empfinden, dass ich dieses oder jenes wirklich gut gemacht habe.

 

c) Eine Kultur des Genug pflegen. Denn die eigenen Grenzen sind nicht nur dafür da, dass ich sie überschreite, sondern sie können auch eine Umfriedung sein. Sie markieren einen Lebensraum, innerhalb dessen ich in Frieden leben kann.

 

d) Auf die Signale des Körpers und der Gefühle hören. Sie sind ein einmaliger Seismograph.

 

e) Selbstmitgefühl kultivieren, wenn mir was nicht so gelingt, wie ich es gerne hätte. Und so dem Perfektionismus die Stirn bieten.

 

f) Den Mut haben, in den konkreten alltäglichen Dingen mehr das eigene Leben zu leben, und sich davon freier machen, was andere über einen denken.

 

g) Muße, Spiel und Entspannung kultivieren und Beziehungen pflegen. Das heißt auch, den Mut haben, nicht so viel zu arbeiten.

 

h) Für mehr und größeres leben als für das eigene Ich. Ganz konkret: Jeden Tag etwas für andere tun.

 

i) Mich im Vertrauen üben - im Vertrauen ins Leben und in dessen guten Grund: in Gott. Mir persönlich hilft dabei das bekannte Gelassenheitsgebet: Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

 

Damit all diese Punkte nicht den Eindruck vermitteln "Ihr müsst euch ändern!" und durch die Hintertür den Selbstoptimierungsdruck erhöhen, möchte ich den Freundschaftsgedanken als "Lesehilfe" in Erinnerung rufen. Um sich mit sich selbst zu befreunden lohnt es, sich immer mal wieder zu fragen: Wie würde in dieser konkreten Situation eine gute Freundin oder ein echter Freund mit mir umgehen? Und sich dann davon was abgucken.

 

Das Interview führte Henning Klingen

 

Erschienen in: "miteinander" | Jahrgang 2017 | Ausgabe Jänner/Februar

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