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Woran die Jugend glaubt ...
Der deutsche Soziologe Oliver Nachtwey spricht davon, dass wir in einer Abstiegsgesellschaft leben: Die Zeiten des allgemeinen Wohlstandszuwachses sind Geschichte. Seit den 1970er-Jahren wächst die soziale Ungleichheit. Nur die Milieus des obersten Gesellschaftsdrittels können von globalisierten und zunehmend deregulierten Märkten profitieren. Für die Mittelschichten aber ist der Abstieg wahrscheinlicher geworden als der Aufstieg; für das unterste Drittel sind Aufstiegshoffnungen fast völlig illusionär. Seit 1990 haben die untersten 40 Prozent der Gesellschaft Reallohnverluste hinnehmen müssen.
An die Stelle der „Fahrstuhlmetapher“ ist die „Rolltreppenmetapher“ getreten: Die kollektive Aufstiegserwartung wurde durch individualisierte Abstiegsangst ersetzt. Gespeist wird diese Abstiegsangst durch einen ständig präsenten Wettbewerbsdruck, der unausgesetzt Sieger und Verlierer produziert. Das Leben fühlt sich an, als befände man sich auf einer rasant nach unten laufende Rolltreppe, auf der man seine Position nur dann halten kann, wenn man ohne Unterbrechung gegen die Fahrtrichtung anläuft. Bleibt man nur kurz stehen, gehört man zu den Verlierern, zu den Schwachen und Langsamen und fährt ungebremst in den sozialen Abgrund, dorthin, wo die entkoppelten Schichten in ihren Plattenbauten wohnen.
Suche nach Halt
Vor dem Hintergrund dieser sozio-ökonomischen Situation ist die Jugend nicht von Glaube und Hoffnung erfüllt. Nicht Utopien und lichte Visionen bestimmen das Leben, sondern die ständige Suche nach Halt. 75 Prozent der 14- bis 29-Jährigen sehen sich primär mit der Suche nach Stabilität im Leben beschäftigt. In der Gesamtbevölkerung liegt der Anteil der Halt-Suchenden lediglich bei 60 Prozent.
Der im Vorjahr verstorbene Philosoph und Soziologe Zygmund Bauman konstatierte den Hang der Menschen – insbesondere der Jugend – zu dystopischen Weltbildern: Die Zukunft wird als Katastrophenzeit gedacht. Dem Untergang kann die Gesellschaft nur entgehen, wenn sie umkehrt, wenn sie sich an der Vergangenheit, an den alten Werten und Gewissheiten orientiert, meinen die Jungen. Von der Utopia des Fortschrittsoptimismus zur Retrotopia des Zukunftspessimismus. Die Werteforschung spricht vom massenhaft auftretenden Bedürfnis nach „Regrounding“, der Suche nach Sicherheit und Stabilität bei alten Werten, Regeln und Konventionen.
Spiritualität: Eine Sache der Oberschicht
Doch melancholischer Vergangenheitslust und nagende Zukunftsangst führen die Jugend nicht zu Gott. Die Daten der deutschen Shellstudie 2015 weisen aus, dass lediglich für 33 Prozent der Unter-30-Jährigen der Glaube an Gott „sehr wichtig“ ist. Für 46 Prozent ist er sogar „unwichtig“. Auch für 33 Prozent der katholischen und für 41 Prozent der evangelischen Jugendlichen ist der Gottglaube irrelevant. Nur die muslimischen Jugendlichen sind anders. Unter ihnen ist der Glaube an Allah für 76 Prozent bedeutsam.
Und die Spiritualität, der Supermarkt der Esoterik? Ist eine Angelegenheit der postmaterialistischen Oberschicht. Für sie sind Yoga, Ayurveda, Meditation, Neobuddhismus ein Thema. Die Jugend der Mittel- und Unterschichten ist hingegen „adaptiv-pragmatisch“. Das bedeutet, sie lebt im Hier und Jetzt und versucht, aus der unmittelbaren Gegenwart das Beste zu machen. Die Vergangenheit schnell vergessen und sich mit der Zukunft erst beschäftigen, wenn sie da ist. Das ist die „coole“ Gesinnung der jungen „Egotaktiker“. Alles aus der Gegenwart herausholen was geht, denn die Zukunft ist ungewiss. Und das ewige Leben nach dem Tod? Wäre schön, ist aber eher unwahrscheinlich.
Bernhard Heinzlmaier ist ehrenamtlicher Vorsitzender des Instituts für Jugendkulturforschung in Wien und Hamburg. Hauptberuflich leitet er eine Agentur in Hamburg, die sich u. a. mit Jugendpolitik, Freizeitforschung und jugendkulturellen Trends befasst.
Erschienen in: "miteinander" | Jahrgang 2018 | Ausgabe September/Oktober 2018
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