Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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Ich bin ein Träumer, höre ich von Freunden und Bekannten manchmal. Mit einem leicht spöttischen Unterton, der mir zu verstehen geben soll: Komm zurück auf die Erde; spinn‘ nicht rum; sei realistisch. Oder um es mit einem geflügelten Wort des verstorbenen deutschen Altkanzlers Helmut Schmidt zu sagen: „Wer Visionen hat, der soll gefälligst zum Arzt gehen.“ Zugegeben, Träume und Visionen haben heute keinen guten Ruf. In der Politik zählt nur die harte Währung der „Realpolitik“. Die Wirtschaft interessiert sich für das Reich der Imaginationen nur dann, wenn sie es in bare Münze wandeln kann.
Auch gesellschaftlich scheint es nicht gut bestellt zu sein um das grenzüberschreitende Denken: Offenbar verlernen wir in dem Maße, wie wir die Welt hinnehmen, auch zu träumen – als wären Krieg, Ungerechtigkeit und Elend Naturgesetze. So führte die Wochenzeitung Die Zeit vor einigen Jahren ein Gespräch mit Studenten. Gefragt nach den Träumen, die die jungen Menschen bewegten, sagten diese: „Keine Träume, keine Idole.“ Wo selbst der Jugend der „Möglichkeitssinn“ (R. Musil) abhanden kommt, sollten wir auf der Hut sein, denn einer Gesellschaft ohne jugendlichen Sturm und Drang, ohne Empörung und Revolte, droht die Zukunft abhanden zu kommen.
Und die Religion? Der Glaube? Er könnte ein letztes Refugium des nicht domestizierten Gedankens sein, ein Ort des Anders-Denkens, die eigentliche Traumfabrik. Denn was ist die Quelle von Träumen und Visionen? Es ist ein oft mehr gefühltes denn gewusstes Nichteinverstanden-Sein mit der Welt. Ein brennendes Vermissen von Liebe, Gerechtigkeit, Frieden – letztlich von wirklicher Zukunft, die sich nicht darin erschöpft, die Wiederholung des immer Gleichen zu sein. Und was ist die biblische Botschaft vom Reich Gottes anderes als eine eben solche große Vision, ein Traum, der darauf drängt, Realität zu werden? So könnte der Glaube jenes Elixier sein, das es braucht, um die Welt dem Bannkreis des bloßen Daseins abzutrotzen.
Um ins Träumen zu kommen, muss man einschlafen, sich von der Welt verabschieden. Doch Träume kennen auch Grenzen: Ihre Bedingung ist die Einhegung zwischen Abend und Morgen. Und so zählt zu jedem „guten“ Traum auch das Wieder-Erwachen. Zurück in die Welt! Nicht, um sich vom grellen Licht blenden zu lassen und die Augen gleich wieder zu schließen, sondern um anzupacken. Denn Träume und Visionen haben keine Arme und Beine – zumindest keine anderen als unsere.
Henning Klingen
Chefredakteur
Erschienen in: "miteinander" | Jahrgang 2016 | Ausgabe Jänner/Februar
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