Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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Die neutestamentlichen Evangelien erzählen häufig von Erfahrungen des Scheiterns. Das gilt besonders für die Passions- und Ostererzählungen: Hier wird das Scheitern der Verkündigung Jesu inszeniert. Der galiläische Prediger pilgert nach Jerusalem hinauf. Es zieht ihn ins Zentrum der Macht oben auf dem Berg. Dort entfaltet er seine Tempelkritik und kommt in erhebliche Konflikte mit der Tempelaristokratie. Seine Botschaft eines bedingungslos liebenden Gottes findet keinen Widerhall. Er wird mundtot gemacht und endet in einem Aufschrei am Kreuz. Er, der sich als zärtliche Fingerspitze Gottes in den Sand der Lebensgeschichten der Leute schrieb (Joh 8,5), verstummt ohnmächtig. Auch seine Jünger scheitern. Ihre Treue zerbricht unter dem Druck der Verfolger. Die Gemeinschaft der Weggefährten verliert sich irgendwo vor den Toren der Stadt.
Man könnte meinen, dass die Erfahrungen des Scheiterns spätestens am Ostermorgen enden, weil sich dann alles zum Guten wendet. Aber dem ist nicht so. Die Osternarrative sprechen ebenfalls darüber. Das wird besonders deutlich, wenn die Frauen zum Grab kommen, um den Körper Jesu zu salben. Sie suchen ihn, finden ihn aber nicht. Trotz der Botschaft des Engels bleibt er verloren. Ähnlich ergeht es Maria Magdalena. Sie sehnt sich tief danach, ihren geliebten Herrn zu berühren und bei sich zu behalten; zu "erfassen", was geschehen ist. Aber gerade als sie dem Auferstandenen begegnet, entzieht er sich. "Halte mich nicht fest!".
Seine Präsenz ist eine Absenz, seine Gegenwart nur im Aufgeben erfahrbar. Die Versuche, seiner habhaft zu werden, laufen fehl. Es verschlägt deshalb auch allen, die am Ostermorgen ans Grab kommen, irgendwie die Sprache. Es fehlen die Worte dafür, was hier geschehen ist. Ostern ist durchzogen von Erfahrungen des Verlustes von Sozialität, von Sprache, von Gegenwart: vom Scheitern.
Diese biblischen Beispielen lassen erkennen, wie man Scheitern systematisch bestimmen kann: als Verlust von Raum. "Scheitern" ist der Prozess oder das Ereignis, in dem ein Verlust von Handlungs-, Sozial- und Sprachraum eintritt. Denn jedes Leben hat eine Ordnung, eine Struktur. Menschen leben in und durch einen vielfältig strukturierten Raum, ein Gefüge von Handlungs-, Sprach- und Sozialisierungsrelationen. Die Struktur der Dinge erzeugt eine Beherrschbarkeit der Welt und ermöglicht darin Erfolg.
"Scheitern" meint das Gegenteil. Im Scheitern gehen diese Strukturen des Handelns, der Sprache oder des Lebens als deren Möglichkeitsbedingung verloren. Handeln läuft ins Leere. Was sich dabei einstellt, ist ein verlorener Raum. Die Handlungsmöglichkeiten bleiben präsent als das, was fehlt. "Woran hat es gefehlt?", fragt man, wenn etwas misslungen ist.
Kehrtwende und Aufbruch
Scheitern hat deshalb auch eine konstruktive Seite. Erfahrungen des Scheiterns decken die Produktionsbedingungen des Lebens auf. Man blickt hinter die Kulissen. Von dieser kritischen Erkenntnis der eigenen Lage kann ein kreativer Impuls ausgehen. Es werden Umstellungen denkbar. Neues und Anderes wird sichtbar. Dem verlorenen Raum tritt ein möglicher Raum gegenüber. Scheitern führt damit in einen Zwischenraum aus Verlust und Überschreitung. Es öffnet die Möglichkeit der Entscheidung, über das Bisherige hinauszugelangen und sich in einem "spatial turn" – einer gänzlichen Umkehr – anderswohin zu wenden. Im Scheitern steckt ein Aufbruch.
Das Osternarrativ ergänzt etwas Wesentliches: Die Jünger erleiden zwar Verluste, sie erfahren ein Scheitern in der Unverfügbarkeit des Auferstandenen. Aber dieser Verlust, so dunkel wie er ist, wird zu einem Licht für Ihren Weg und führt zu Entdeckungen. Er wendet ihre Gedanken den anderen zu, die ebenfalls mit dem Verlust ringen. Im Verlust sind sie aufeinander in neuer Weise bezogen. Die erlittene Ohnmacht lässt sie eine andersartige Verbundenheit entdecken, ein neues Miteinander.
Der erlittene Verlust stößt darin ein Wagnis des Glaubens an. Im Scheitern tritt eine Leerstelle auf. Sie wird nun nicht als Ort einer Vernichtung, sondern als Einbruchstelle eines Anderen gesehen. Der entzogene Auferstandene ist eben nicht fassbar. Aber gerade darin wird er zum Ausgangspunkt, immer neu zu besprechen und zu suchen, wo er zu finden sei. Das Scheitern wird zum Übergang in einen offenen Raum. Am Ort des Verlustes öffnet sich eine Passage. Sie ist der Beginn eines Weges in und mit den anderen.
Aktualität des Scheiterns
Scheitern wird derzeit zunehmend zu einer öffentlich verhandelten Lebenserfahrung: Die Ratgeberliteratur dazu wächst, poststrukturalistische Soziologien und Philosophien entdecken es als eigenes Thema, wie etwa der Band "Scheitern – ein Desiderat der Moderne?" von Rene John und Antonia Langhof eindrucksvoll belegt. Die Erfahrung der Fragmentarität des Lebens drängt an die Oberfläche. Leben ist stets von Brüchen durchzogen. "Scheitern" ist ein Zeichen spätmoderner Zeiten.
Wenn sich Theologie und kirchliche Verkündigung darauf einlassen, können sie das eigene Evangelium tiefer verstehen und die eigenen Gehalte über das Scheitern neu entdecken. Dies macht authentischer und führt zu neuen Praktiken im Umgang mit Lebensbrüchen. Gott verschließt Lebensräume im Scheitern nicht, sondern öffnet sie, indem er Aufbrüche ermöglicht. Darin steckt kritisches Impulspotential für die Gesellschaft insgesamt, nämlich eigene Scheiternserfahrungen weder zu tabuisieren noch als pure "Chance" zu trivialisieren. Wenn man sich mit dem Scheitern konfrontiert und es zu betrauern lernt, wird es belebt und zum Ort der Entdeckung einer neuen Verbundenheit und Sprache. Dies erschließt Humanisierungs- und Entspannungspotentiale für die Leistungsgesellschaften von heute.
Christian Kern
Christian Kern, Priester des Bistums Würzburg, Doktorand an der theol. Fakultät Salzburg, Fachbereich Dogmatik, zum Thema "Theologie an Orten des Scheiterns".
Erschienen in: "miteinander" | Jahrgang 2016 | Ausgabe März
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