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"Migration sensibilisiert für die Frage nach Gott"

Was lehren die aktuellen Migrations- und Flüchtlingsströme aus einem theologischen Blickwinkel? Ein Interview mit Regina Polak.

 

Frau Prof. Polak, "Religion im Kontext von Migration" – So nennt sich das Forschungsfeld, in das Sie sich seit Jahren an der Universität Wien vertiefen. Wie kommt es zu dieser Verbindung zwischen Religion und Migration?

 

Wenn Sie sich die Texte des Ersten Testaments, die für uns Christen genauso verpflichtend sind wie die des Neuen, ansehen, dann werden Sie feststellen, dass unser Glaube maßgeblich im Kontext von Erfahrungen von Migration entstanden ist: Exil, Diaspora, Vertreibung, Befreiung. Migrationen haben eine wichtige Aufgabe im Zusammenhang mit der Geschichte des Heils zwischen Gott und der Menschheit, mit verschiedenen Berufungen. Ich glaube, dass daraus ein Befreiungsprozess werden kann, wenn wir hier in Europa wahrnehmen, dass auch wir Befreiung brauchen von unserer Lebensweisheit, die wahrscheinlich wirklich zu stark an Materiellem fokussiert ist.

 

Und diese Befreiung kann ein religiös imprägnierter Blick auf Migration ermöglichen?

 

Ja, das geschieht mit den Augen des Glaubens: Ich betrachte Migration als einen Ort der Theologie, als locus theologicus, der in besonderer Weise sensibel macht, mit Gott in Verbindung zu treten. Ich glaube, dass Migration verletzbar macht, weil man merkt: Ich bin letztlich nicht mit meiner Scholle verwachsen, sondern ein fragiles Geschöpf, das in dieser Welt fremd ist. Diese konkrete Erde gibt mir Heimat, ist aber nicht meine letzte Heimat und kann mir genommen werden. Wenn ich an bestimmten Ort lebe, sind die Götter normal. Wenn ich vertrieben werde, sensibilisiert das auf neue Weise, dass ich über Gott nachdenken kann. In diesem Sinn ist das auch eine Chance, es auf neue Weise zu tun.

 

Sie verstehen Migration also als einen Weg, tiefer in den Glauben hineinzuwachsen?

 

Ich glaube, Migration sensibilisiert für die Frage nach Gott, für die Wahrnehmung, dass wir zu Gott in einer Beziehung stehen, dass wir Gott brauchen. Und das ist dann im Prinzip glaubensproduktiv. Es ist das Babylonische Exil, wo die spannendsten theologischen Konzepte entstehen, weil die sich plötzlich überlegen müssen: Was ist jetzt mit unserem Gott? Wir sind da in der Fremde gelandet. Warum? Da fangen sie an, Theologie zu treiben. Sesshaftigkeit verführt offensichtlich dazu, das, was rundherum ist, für selbstverständlich zu erachten. Migration setzt alle Beteiligten in Bewegung, die Einheimischen anders als die Migranten. Man entdeckt, dass die eigentliche Heimat der Himmel ist. In gewissem Sinn ermöglicht es eine Rückkehr, eine Heimkehr zu Gott, dass das der eigentliche Ort ist, von dem ich aus lebe. So würde ich es spirituell formulieren.

 

Wobei Sie diese positive, glaubensproduktive Perspektive vermutlich von jener trennen würden, mit der Sie auf die gegenwärtigen Flüchtlingsströme blicken…?

 

Ich hoffe, dass Migration und Flucht für Europa zur Chance werden, Gerechtigkeit und Zusammenleben in Verschiedenheit zu lernen. Aber das kann ich nur als Gläubige sagen – denn wenn ich mit historischer Rationalität auf die aktuelle politische Situation schaue, bin ich nicht sehr zuversichtlich. Hier nehme ich sehr gefährliche Entwicklungen wahr – Rekurs auf nationalistische und fremdenfeindliche Wahrnehmungs- und Handlungsmuster. Hoffen heißt, in Zeiten der Krise die Orientierung an Gott nicht verlieren – auch wenn es schwierig und riskant wird, christliche Alternativen zu leben und zu zeigen, wie Migration zum "Gewinn" werden kann.

 

Sie beschäftigen sich in Ihren Forschungen seit Jahren mit dem Schwerpunkt "Religion im Kontext von Migration". Wie ist der Status quo der Beschäftigung mit diesem Thema in der Theologie?

 

Im deutschen Sprachraum betreiben wir Theologie nicht in einer zeit-, kontext- und geschichtslosen Zone, sondern heute, hier und jetzt in einer Migrationsgesellschaft. Und was heißt das für die einzelnen Fächer? Viele Bibeltexte sind von einer Minorität für eine Minorität aufgrund von Problemen einer Minorität geschrieben worden. Da interpretiert man sie anders, als wenn man sie – wie ich – aus einer Mehrheitssituation heraus liest.

 

Wenn Sie einen Blick in die Zukunft werfen: Wo sehen Sie Chancen, mehr in der Vermittlung zwischen Theologie und Migration zu machen?

 

Ich wünsche mir einerseits für die deutschsprachige Theologie, dass Migration viel mehr zum Thema – und zwar zum Thema aller theologischer Fächer – wird. Mit Migranten und Flüchtlinge kommen – wenn sie christlich sind – ganz verschiedene Glaubenserfahrungen und andere theologische Kontexte zu uns. Das sehe ich auch im Hörsaal mit internationalen Studierenden: Da sitzen Menschen mit unterschiedlichen Kirchen- und Glaubenserfahrungen und unterschiedlichen Theologien. Das muss sich auch in der Theologie widerspiegeln: Wird die Vielfalt reflektiert? Werden die Erfahrungen christlicher Migranten auch für die Theologie produktiv? Da tun sich jedenfalls etliche Forschungsfelder für die Theologie auf.

 

Das Interview führte Markus Andorf

 


 

Regina Polak ist Associate Professor am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien

 

 

Erschienen in: "miteinander" | Jahrgang 2016 | Ausgabe Juli/August

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