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Heiliger Zorn

Wolfgang Thierse: "Mehr heiliger Zorn, weniger egoistische Wut"

Welche Rolle spielen Zorn und Wut in einer auf Konsens und Ausgleich bedachten Politik? Ein Gespräch mit dem Politiker und früheren deutschen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse.

 

Protester pointing finger and holding megaphone

 

 

miteinander: Sie sind gleichermaßen bekannt als streitbarer Politiker und politischer Brückenbauer. Braucht es zum gediegenen politischen Streit Wut und Zorn?

Wolfgang Thierse: Ich unterscheide zwischen Zorn und Wut. Wut richtet sich gegen etwas, das mich persönlich ärgert, das mein persönliches Unglück bewirkt, das mich beeinträchtigt. Zorn hingegen richtet sich gegen das Unglück anderer, gegen ungerechte Verhältnisse. Wutbürger gehen auf die Straße, weil sie sich persönlich benachteiligt fühlen. Wer zornig ist, geht auf die Straße, um gegen Armuts- und Ungerechtigkeitsverhältnisse zu protestieren.

 

thema Heiliger ZornZur Person:

Der 1943 in Breslau geborene SPD-Politiker Wolfgang Thierse war von 1998 bis 2005 zunächst Präsident und von 2005 bis 2013 Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Heute ist er u. a. Sprecher des Arbeitskreises „Christen in der SPD“ und Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

 


 

miteinander: Zorn ist also eine politische Produktivkraft …

Thierse: Ja, das kann so sein, solange der Zorn kein Selbstzweck ist. Er muss immer einmünden in konkrete, realisierbare Handlungsmöglichkeiten. Als ich 1989 in die Politik gegangen bin, musste ich genau das erst lernen: die großen Metaphern, die Hoffnungen, die Ideale in das Kleingeld alltäglicher politischer Prozesse umzuwandeln, in die Politik der nächsten Schritte. Immer mit den Fragen vor Augen: Was ist machbar? Was ist finanzierbar? Da wird man dann natürlich sofort verdächtigt, man habe seine Ideale verraten, nur weil man begriffen hat, dass humanitärer Idealismus der Übersetzung in ebendiese konkreten Handlungsschritte bedarf. Aber wir dürfen die Mühen dieser Tiefebenen nicht scheuen. Im Gegenteil: Sie sind das Bewährungsfeld des Politischen.

 

miteinander: Wenn man die rechtspopulistischen Bewegungen betrachtet, die derzeit in der Öffentlichkeit besonders laut in Erscheinung treten, könnte man daraus schließen, es gäbe zu viel politische Wut und zu wenig Zorn.

Thierse: In der Tat habe ich den Eindruck, dass Bewegungen wie die AfD oder Pegida mit der Wut der Menschen spekulieren. Und dies nicht, um die Wut in politische Lösungen für alle umzumünzen, sondern um sie zu entfesseln. Das Schlagwort des Wutbürgers trifft das meines Erachtens sehr gut: Es bezeichnet eine Person, die sich persönlich gemeint und herabgesetzt fühlt etwa im Vergleich zu „den anderen“, den Flüchtlingen, den „Sozialschmarotzern“. Das ist aber kein Zorn, der in die Suche nach politischen Lösungen für alle mündet. Insofern würde ich mir mehr heiligen Zorn und etwas weniger egoistische Wut in der Politik wünschen.

 

miteinander: Ist das Christentum da ein Katalysator des Zorns? Gibt es Inhalte, die eher heiligen Zorn als egoistische Wut fördern?

Thierse: Ja, die gibt es, zumal das Christentum eine Botschaft ist, die auf der Gleichheit der Menschen und ihrer Würde aufsetzt. Wir dürfen uns alle als Kinder Gottes begreifen. Insofern ist das Christentum im besten Sinne ein großer Gleichmacher. Die politischen, sozialen Verhältnisse machen jedoch immerfort ungleich und rütteln am Grundsatz gleicher Würde. Das sollte den Zorn der Christen erregen und daher glaube ich auch, dass Christen verpflichtet sind, für eine solidarische und gerechte Gesellschaft einzutreten.

 

miteinander: Ein christlich-sozialdemokratischer Brückenschlag?

Thierse: Sozialdemokratisch ja, nicht sozialistisch. Denn es ist entscheidend, dass bei all dem die Freiheit nicht preisgegeben wird. Das war ja der Versuch des Kommunismus: Gerechtigkeit herzustellen unter Preisgabe der Freiheit. Das hat bekanntlich blutig geendet und kann nicht der Weg sein. Christen wissen, dass keine Politik der Welt das Recht hat, den Menschen im Interesse einer künftigen Gesellschaft zu opfern. Es geht um die Würde des heutigen Menschen. Sich dafür einzusetzen und gegen bestehende Ungerechtigkeiten vorzugehen, ist ein starkes Motiv, auf das auch christlicher Zorn zielt. Ich sehe diesen Zorn etwa bei Papst Franziskus. Daraus folgt nicht notwendigerweise politisches Geschick und man wird gewiss angreifbar vonseiten der Realpolitiker. Aber wir brauchen diesen christlich-jesuanischen Zorn sehr dringend.

 

 

Das Interview führte Henning Klingen

 

 

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