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Aus dem neuen »miteinander«

Bussi, Bussi und die Faust

Wenn der Mensch ohne Berührungen nicht leben kann

Vom Wangenkuss zum Ellenbogen-Check, vom Bussi zum Faust-Gruß: Ein Gespräch mit dem Psychologen und Haptik-Forscher Martin Grunwald darüber, was Begrüßungsrituale über uns verraten und warum der Mensch Berührungen braucht. Von Lukas CIONI

miteinander 11-12/2023

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Herr Grunwald, Begrüßungsrituale leben von Berührungen. Kann der Mensch nicht ohne Berührungen leben?

Der menschliche Organismus ist ein soziales Wesen, das auf die körperliche Anwesenheit anderer Lebewesen angewiesen ist. In den frühen Lebensjahren sind Berührungsreize für den Organismus elementare Wachstumsimpulse. Fehlen diese, dann verödet oder stirbt der Organismus. Durch sozial vermittelte Körperberührungen erfahren wir zum einen, dass der sozial andere auch wirklich physisch da ist, und zum anderen versichern wir uns durch die Körperinteraktion unserer eigenen Existenz. Nach dem Motto: „Ich fühle den sozial anderen, also bin ich!“

 

Corona hat Begrüßungsriten verändert. Welche non-verbale Information geht durch distanzierte Begrüßungsformen verloren?

Ritualisierte Handlungen sind von Vorteil für den Organismus; sie sparen neuronale Ressourcen und Energie. Neue Begrüßungsformen sind in erster Linie neuronal und psychologisch anstrengender als ritualisierte. Diese Formen erfordern mehr Aufmerksamkeit und dadurch wird mehr neuronale Energie verbraucht. Überdies führen neue Begrüßungsformen auch zu einer völlig veränderten Kontaktcharakteristik, denn andere Körperteile werden berührt; die Kontaktdauer und deren Intensität verändern sich. Statt sich auf das Kontaktereignis zu konzentrieren, liegt der neuronale und emotionale Schwerpunkt auf der Bewegungsplanung und -ausführung – etwa beim Faust-Gruß. Ein Generationenunterschied wäre hier auch, dass Jugendliche diesen bereits früher ritualisiert angewandt haben, für die Mehrheit der Gesellschaft ist es aber eine neue, zu erlernende Art der Begrüßung.

 

Ein Sprichwort besagt: „Eine Umarmung sag mehr aus als tausend Worte“ – stimmt das?

Starke Beziehungssignale zu einem anderen Menschen wie Zuneigung, Verständnis, Freude oder Trauer können wir natürlich auch verbal transportieren. In der Regel verzichten wir aber auf dieses Mittel und senden in solchen Situationen körperliche Signale, wie in Form einer Umarmung. Diese Körperkommunikationsform ist für unsere Spezies ein einfacher und direkter Weg der Kommunikation. Sender und Empfänger verstehen diese Form der Informationsübertragung prächtig – wäre es anders, würden wir wahrscheinlich viel mehr reden.

 

In der Kirche gibt man sich zum Friedensgruß die Hand. Was suggeriert eine solche offen hingehaltene Hand?

Die unbewährten Hände eines anderen Menschen sehen zu können, scheint gerade bei einem Erstkontakt extrem wichtig zu sein. Gesetzeshütende Personen fordern in hochkritischen Situationen explizit dazu auf: „Zeigen Sie Ihre Hände.“ In meiner Kindheit galt es als unhöflich und respektlos, wenn die Hände während eines Gesprächs in der Hosentasche belassen wurden. Der Blick auf die werkzeug- und materialfreien Hände ist also in mehrfacher mHinsicht eine wichtige Informationsquelle. Angesichts dessen, was wir mit unseren Händen und funktionalen Materialien so alles anrichten können, ist es ein nachvollziehbares Bedürfnis.

   

Was sagt die Art der Begrüßung über Beziehungen aus?

Begrüßungskommunikation zwischen Menschen ist psychologisch betrachtet ein sehr komplexer Vorgang, der sich allerdings nur innerhalb von wenigen Sekunden entfaltet. Sich gegenseitig bekannte und vertraute Menschen begrüßen einander anders, als Menschen
die sich erstmalig im beruflichen Kontext oder auf einer Party begegnen. Wenn beide Seiten die Situation und ihren Beziehungsstatus gleich beurteilen, dann gibt es auch kein holpriges Begrüßungsritual. Schwierig wird es, wenn eine Seite vom situativen Konsens abweicht und anders agiert oder gar reagiert, als das Gegenüber erwartet. Dann kann es mitunter peinlich werden.

 

Was verstehe Sie unter dem „Lebensmittel Berührung“?

Nesthockende Säugetiere wie die menschliche Spezies brauchen besonders am Anfang des Lebens ein ausreichendes Maß an adäquaten Körperinteraktionen. Diese Berührungsreize entfalten innerhalb des Organismus eine sehr komplexe Kaskade biochemischer Reaktionen, die sich unter anderem in Wachstums- und Reifungsprozessen äußert. Insofern stellen Berührungsreize eine besondere Form von „Lebensmittel“ dar.

 

Ihrer Meinung nach fehle es in der industrialisierten Welt an „mehrdimensionalen haptischen Erfahrungen“. Was meinen Sie damit?

Die Materialität unserer Umgebung ist durch ihren hohen Grad an Glattheit geprägt. Hinzu kommt, dass fast alle gesellschaftlichen Gruppen einen Großteil ihrer Lebenszeit mit und an digitalen Systemen verbringen. Diese beiden Bedingungen führen zu einer Reduktion komplexer, dreidimensionaler Umwelterfahrungen. Als dreidimensionale Lebewesen sind wir mit unseren Sinnessystemen optimal an die Wahrnehmung der Dreidimensionalität unserer Umwelt angepasst. Wenn diese Komplexität aber immer mehr aus dem Alltag verschwindet, bleibt die Frage, welchen Einfluss das langfristig auf unsere Spezies hat.

 

Laut Ihnen sei „Social Distancing nur ein vorübergehender Kompromiss“ – wie ist das gemeint?

Das nesthockende Säugetier Mensch kann auf lange Sicht nicht gut und gesund leben, wenn nicht ein individuelles Maß an adäquater Körperkommunikation mit anderen Lebewesen stattfindet. Wohlgemerkt, die Bedürfnislage ist individuell sehr verschieden. Sozial vermittelte Körperkommunikation ist für die Einen ein tägliches Lebensmittel und für die anderen eher eine entbehrliche Belastung. Insofern ist es für die eine Gruppe ein unnatürlicher Zustand gewesen, sich von anderen Menschen möglichst körperlich fern zu halten. Dementsprechend wurden die offiziellen Kontaktregeln als Kompromiss mehr oder weniger eingehalten.

 

Wann und wie ist Ihnen selbst zuletzt ein Fauxpas während eine Begrüßung passiert?

Ich habe einen Kollegen aus den USA mit einer Umarmung begrüßen wollen, da ich mich sehr gefreut habe, ihn nach Jahren wieder zu sehen. Der Kollege war aber von meinem körperkommunikativen Begrüßungsversuchso irritiert, dass es eine seltsame Situation für beide wurde. Seither achte ich gerade im internationalen Kollegenkreis bei Begrüßungen stärker auf nationale Gepflogenheiten.


miteinander-Magazin 11-12/23

Dr. Martin Grunwald:

ist Universitätsprofessor und experimenteller Psychologe mit dem Schwerpunkt Wahrnehmungspsychologie (Haptik), Autor sowie Leiter des Haptik-Forschungslabors am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig.

Martin Grunwald

Martin Grunwald: Homo hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. Droemer-Verlag: 2017, ISBN: 978-3-426-27706-5, € 19,99.

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