Die Gabe
miteinander 11-12/2025
Ein kraftvoller Abstoß, das Wasser peitscht gegen seine Brust, während Derek Amato ins flache Becken taucht. Der Hinterkopf knallt auf den harten Beton – der dumpfe Aufprall reißt Amato aus der Bewegung und für einen Herzschlag steht die Zeit still. Sekunden nach dem Unfall setzten Migräne und Erinnerungslücken ein und ein Drittel seines Gehörs geht verloren.
Eine nie dagewesene Begabung
Vier Tage nach dem Unfall zieht es Amato spontan zu einem Keyboard in der Wohnung eines Freundes. Ohne Rhythmuserfahrung, ohne musikalische Vorkenntnisse, setzt er sich an die Tasten. Kaum streifen seine Finger die Tasten, erwacht in Amato eine nie dagewesene Gabe: „Einen Augenblick herrschte Stille, im nächsten spielte ich, als hätte ich nie etwas anderes getan.“ Wo zuvor Schweigen geherrscht hatte, formen sich nun Akkorde, als sei in den Tiefen
seines Gehirns eine verborgene Partitur ans Licht gerückt. Die ersten Töne sind schlicht, bald aber spielt er komplexe Melodien, die er weder kennt noch bewusst komponiert hatte. In der Fachwelt wird Amatos Zustand als „erworbenes Savant-Syndrom“ bezeichnet. Einer Hypothese zufolge schwächt das Trauma die filternde Kontrolle der linken Hirnhälfte und befreit so Teile der rechten, kreativen Domäne. Schon im 19. Jahrhundert beschreibt der britische Arzt John Langdon Down, Namensgeber des Down-Syndroms, jene außergewöhnliche Fähigkeiten
als Inselbegabungen. Für Amato manifestiert sich diese Insel als ein Notenstrom aus „schwarz-weißen Kästchen“, der vor seinem inneren Auge von links nach rechts fließt und sich wie eine grafische Komposition in Klang übersetzt.
Kein Einzelfall
Etwa dreißig vergleichbare Fälle sind weltweit dokumentiert. Der amerikanische Chirurg Tony Cicoria empfindet etwa nach einem Blitzschlag eine unstillbare Sehnsucht, Klaviersonaten zu komponieren – obwohl er zuvor nie gespielt hatte. In Florida entwickelt der Jugendliche Orlando Serrell nach einem Baseballunfall ein unfehlbares Kalendergedächtnis: Datum und Wetter jeder vergangenen Stunde der letzten Jahre ruft er mühelos ab, als sei sein Geist ein lebendiges Archiv. Der Bildhauer Alonzo Clemons wiederum modelliert seit einem Sturz in der Kindheit feinste Tierplastiken – anatomisch präzise und intuitiv gefertigt.
Geschichten wie diese offenbaren ein Paradox: Schwerwiegende Verletzungen bergen ungeahntes Potenzial in sich. Schmerzliche Brüche lösen neuronale Barrieren, eröffnen Pfade, die zuvor im Verborgenen ruhten. So mahnen Phänomene wie Amatos Inselbegabung, das Gehirn weniger als starres Steuergerät, sondern als lebendiges Netzwerk mit unentdeckten Möglichkeiten zu begreifen.
Neurowissenschaftliche Erkenntnisse stehen noch am Anfang, doch erste Studien deuten auf weitreichende Konsequenzen hin: Verständnis und gezielte Nutzung einer solchen „Disinhibition“ könnten nicht nur Rehabilitationsansätze verfeinern, sondern auch neue Wege eröffnen, Kreativität und Gedächtnisleistung im Alltag zu fördern, um diese ohne Unfall, etwa mit maßgeschneiderten Simulationen, entfesseln zu können.