Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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miteinander 1-2/2026

Einen Menschen zu lieben, kann man nicht lernen wie eine Technik, aber doch einüben. Einen Menschen als Partner oder Partnerin zu lieben, ist anders als die Liebe zu Eltern, Kindern, Freundinnen und Freunden, Verwandten, unbekannten Menschen auf der Straße oder gar Feinden.
Am Anfang seines neuen Romans Die Stadt und ihre ungewisse Mauer entwickelt der japanische Schriftsteller Haruki Murakami einige Anhaltspunkte über die Liebe. Er beschreibt, wie die beiden, die einander näherkommen, nebeneinandersitzen und einer das Gefühl hat, „als ob Tausende unsichtbarer Fäden deinen Körper zart an mein Herz binden würden“. Liebe schafft Bindung, oftmals unsichtbare Bindung auf oftmals unmerkliche Weise. Gemeinsam verbrachte Momente schaffen geteilte Erinnerungen und diese binden aneinander.
Zeit, Wunder, Wort
Liebe sucht, auch das eine Andeutung Murakamis, das wahre Selbst, das wahre Ich. Nicht die Fassade und nicht den Schein. Das erschließt sich durch die Kraft der Sehnsucht, den anderen Menschen wahrhaftig kennenzulernen. Liebe hat ihre eigene Zeit. Murakami beschreibt, wie die beiden sich in Gesprächen verlieren, ganz in diesen Gesprächen aufgehen, die Zeit gerät aus dem Blick, bleibt gleichzeitig stehen und rast dahin. Und doch braucht Liebe Behutsamkeit und eine Achtung vor Zeit, dem Sich-Zeit-Lassen. Liebe ist ein Wunder und dieses Wunder macht alles neu. Murakami beschreibt, wie die beiden Liebenden einander Briefe schreiben, die Worte fließen und jedes Wort ist kostbar. Hier findet Warten auf das Wort des anderen statt, Warten auf ein Wort, das nur der andere geben kann. Halten wir fest: Bindung, Suche nach dem wahren Selbst, Zeit, Wunder, Wort.
Einen Menschen zu lieben, verlangt nach der Bereitschaft, sich zu binden, auch an Feinde. Der amerikanische Friedensforscher John Paul Lederach hat das einmal so ausgedrückt: Es ist Teil der moralischen Vorstellungskraft, uns in einem Netz von Beziehungen zu sehen, das auch unsere Feinde einschließt. Liebe ist offen für Bindung – bietet eine offene Tür an, die dann in einen Raum führt, in dem Gemeinsames geschützt wachsen kann.
Einen Menschen zu lieben,
verlangt nach der Bereitschaft, sich zu binden,
auch an Feinde.
Beziehungen ohne Briefe?
Einen Menschen zu lieben, schließt die Suche nach dem Du jenseits des Offensichtlichen und Scheinbaren ein; das mag auch Mühen kosten, beruht auf tiefem Interesse, einem Willen zum Wissen um das Du, einem Willen zur Nähe. Einen Menschen zu lieben, ist dann wie das Erforschen eines großen unbekannten Gartens, der voller Überraschungen steckt. Ein Wunder eben. Ein Wunder, das Zeit braucht. Und dann die Kraft des Wortes – Liebe macht Worte lebendig und Liebe erfüllt Schweigen mit Kraft. Liebe zeigt sich in frischen Worten, in einer Sprache, die je neu ist und je neu macht. Was wären Beziehungen ohne Briefe! Einen Menschen zu lieben, ist Einladung zum Festmahl, aber auch eine Einladung zum gemeinsamen Kochen, ja, auch: eine Einladung zum gemeinsamen Anpflanzen und dann Ernten.
Wenn wir einander lieben würden, würden wir einander anders behandeln. Lehrer, die die Kinder lieben, werden ihnen Welten eröffnen; Ärztinnen, die die Patientinnen lieben, werden Wunder wirken können, zumindest Wunder, die zu Dankbarkeit führen; Jesus hat seinen Jüngerinnen und Jüngern ein neues Gebot aufgetragen, einander zu lieben. Daran soll man Christinnen und Christen erkennen: dass sie einander lieben! Was heißt das für die russischen Christen, die Krieg gegen die Ukraine führen, oder die Christinnen und Christen in den Vereinigten Staaten, die durch Parteizugehörigkeiten voneinander getrennt sind? Liebe braucht Bereitschaft zu Bindung, Suche nach dem wahren Selbst, Zeit, die Macht, Wunder zu sehen,
und die Kraft des Wortes.
Liebe gibt Kraft und schenkt Schmerz
Ich schreibe diese Zeilen am Allerseelentag. Was heißt es, einen Menschen zu lieben,
den wir hier geliebt haben und der von uns gegangen ist, uns vorangegangen ist? Hier ist Bindung; sie wird stärker durch die Abwesenheit. Roger de Bussy- Rabutin hat das so ausgedrückt: „Abwesenheit ist für die Liebe wie der Wind für das Feuer: Kleine löscht er aus, das Große erhellt er.“ Hier ist auch Suche nach dem wahren Selbst des geliebten Verstorbenen, eine Suche, die hier auf Erden nicht endet. Hier ist die Zeit des Wartens und des Hoffens, des Betens und des Erinnerns; das Wunder der Liebe, die hält – und das Wort, das manchmal vom Inneren aufsteigt oder auch im Traum gegeben wird. Liebe bleibt und verändert sich; ändert sich im Bleiben und bleibt im Wandel. Oder auch: Einen Menschen zu lieben, macht
das Einfache schwierig und alles Schwierige leicht – denn die Liebe ist stärker als der Tod. Und diese Stärke gibt Kraft und schenkt Schmerz.

DDDr. Clemens Sedmak
ist Professor für Sozialethik an der University of Notre Dame/USA und Co-Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung an der Universität Salzburg.

Clemens Sedmak: Wie leben? Von Jesus lernen. 40 Bibelstellen, die zeigen, wie Menschsein gelingen kann. Tyrolia: 2025, ISBN: 978-3- 7022-4297-8, € 20,00