Ewig, aber anders
Im Herbst konnte ich einen Moment Ewigkeit atmen. In einer Kneipe am Niederrhein. Wieder mal. Bei einer Party zum 30. Jahrestag unseres Abiturs. Über 60 „Schülerinnen“ und „Schüler“ waren gekommen. Inzwischen alle um die 50 Jahre alt, feierten wir, als gäbe es kein Morgen – im stillen Wissen darum, dass das Morgen von schmerzhafter Zähigkeit sein würde. Die Feier ewiger Jugend zehrt an den Kräften. Und doch: Die Zeit, die vergangenen Jahrzehnte, sie waren plötzlich wie weggeblasen. Eine zeitlose Blase des Glücks. Wie damals, als das Leben sich gerade erst entfaltete, keine Grenzen zu kennen schien. Die schwere Rede vom „ewigen Leben“ wurde aufgehoben in der Leichtigkeit eines andauernden Partyglücks.
Dabei kannten wir bereits den Geschmack durchkreuzten Lebens. Etwa aus dem Philosophieunterricht. „Würdet ihr gern ewig leben?“, fragte unsere Lehrerin damals. Ja, klar! „Nun stellt euch vor“, fuhr sie fort, „es wäre so. Ihr könntet alles tun, alles lernen, alles erleben, weil kein Tod euren Horizont verdunkelt.“ Nach anfänglich lustvoller Zustimmung mischten sich erste Zweifel in das Gespräch. Wäre das nicht irgendwann langweilig? Und wäre nicht plötzlich alles gleichgültig, weil es egal ist, ob ich heute jemandem Gutes tue oder Böses – schließlich kann ich es noch ewig gut- und andersmachen … Und stünde nicht am Ende der Wunsch nach dem eigenen Tod? Uns schauderte. Was als Vision ewigen Lebens begann, endete im Wunsch nach dem eigenen Tod.
Was uns das Experiment damals zeigte, berührt mich bis heute. Denn es sensibilisiert dafür, unserer Sprache mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Was sagen wir da, wenn wir im Credo uns am Ende zum Glauben an „die Auferstehung der Toten und das ewige Leben“ bekennen? Eine Prolongierung der bloß weltlichen Existenz kann es nicht sein. Aber ganz losgelöst von dem, wie wir hier und jetzt leben, kann es auch nicht sein – sonst wäre am Ende wieder alles gleichgültig und ich als Mensch mit all dem, was mich ausmacht, nur ein Wimpernschlag der Ewigkeit. Der Glaube glaubt anderes, Unglaublicheres: dass es auf jeden Einzelnen ankommt – und dass das, was „danach“ kommt, mit mir zu tun hat.
"Es muss mehr geben als alles. Wie eine ewige Party – nur anders."
Zurück zur 30-Jahr-Party: Dort lief zu vorgerückter Stunde der Song „Forever young“ von Alphaville. Eine Rockschnulze. „Let's dance in style, let's dance for a while / Heaven can wait, we're only watching the skies“. Jetzt, mit dem Abstand der Jahre, muss ich schlucken über die Abschiedlichkeit, die in dem Song liegt. „Do you really want to live forever?“ Ja. Ich will, sage ich trotzig. Denn: Es muss mehr geben als alles. Wie eine ewige Party – nur anders.
miteinander-Chefredakteur Dr. Henning Klingen