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Aus dem neuen »miteinander«

(K)eine zweite Chance

Ein Haftentlassener erzählt

Lernt Richard Hauer jemanden kennen, hat er die Wahl: Entweder er erfindet Lügen oder er erzählt, dass er 21 Jahre in Haft war. Bei Letzterem wenden sich jedoch die meisten von ihm ab. Von Ines SCHABERGER

miteinander 5-6/2024

miteinander-Magazin 5-6/24

Sozialarbeiterin Lilli Pock beginnt ihren Tag mit einem Gottesdienst im Stephansdom. „Das erdet mich“, sagt sie. Danach geht sie zur Blutgasse 1. Zwei Räume mit PCs und Tischen – das ist die Beratungsstelle für Haftentlassene, die zur Kategorialen Seelsorge der Erzdiözese Wien gehört. Hier führt sie Gespräche mit Haftentlassenen, hilft bei Behördengängen, vermittelt Arbeitsplätze und Unterkünfte, etwa im Wohnheim Brigitta. „Zu uns kommen Menschen, die niemanden haben. Jede Straftat ist verabscheuungswürdig, aber der Mensch ist mehr als die Summe seiner Straftaten!“, betont sie.

Mittags fährt Pock nach Wien-Brigittenau, wo die Haftentlassenen zwei Stockwerke eines Studierendenheims bewohnen. Im Gemeinschaftsraum riecht es nach kaltem Rauch und Erdäpfeln. Unter einem Holzkreuz steht eine Bank mit Tisch. Dort sitzt die Sozialarbeiterin mit Richard Hauer. Er lebt seit April 2023 im Wohnheim. Ins Gefängnis kam er wegen Raubüberfällen. „Ich bin oft mein Leben in Gedanken durchgegangen, auf der Suche nach dem Punkt, wo ich falsch abgebogen bin“, sagt er. Bereits im Volksschulalter sei sein Weg vorgezeichnet gewesen. Die Kindheit „in einer kranken Familie“ war geprägt von gnadenloser Kritik, aber auch von unbeschränkten Finanzen: „Ich habe gelernt, Geld auszugeben, für das ich nie gearbeitet habe.“

Der 64-Jährige trägt einen schwarzen Pulli, eine Brille und ein verschmitztes Lächeln. „Ich stehe zu meiner Geschichte“, sagt er. Seine Lebensmittel bezieht er bei einem Sozialmarkt, für den er dreimal die Woche ehrenamtlich arbeitet. Wer von seiner Vergangenheit erfährt, wende sich ab: „Niemand will mit einem Straftäter befreundet sein“, bedauert er.

„Dass die meisten Institutionen keine Haftentlassenen anstellen, führt alle Resozialisierungsbemühungen ad absurdum. Man kann sich bemühen, am Schluss hat man doch den Stempel“

Abgestempelt

Neben der sozialen Isolierung sind für Haftentlassene die fehlenden Möglichkeiten am Arbeitsmarkt ein Problem. Laut Sozialarbeiterin Pock gibt es nur Branchen wie die Gastronomie oder die Baubranche, die kein Leumundszeugnis fordern. „Dass die meisten Institutionen keine Haftentlassenen anstellen, führt alle Resozialisierungsbemühungen ad absurdum. Man kann sich bemühen, am Schluss hat man doch den Stempel“, sagt Gefängnisseelsorger Markus Fellinger. Das Gefängnis könne zwar als letzte Chance erfahren werden, vor allem bei einer Suchtproblematik, sagt der Sprecher der evangelischen Gefängnisseelsorgenden Österreichs. Er erlebe aber häufiger, „dass es Menschen demoliert. Freiheitsentzug ist etwas Zerstörerisches und nur dann geeignet, wenn man dem Individuum hilft einen Sinn zu finden.“ Dazu gehören Ausbildungsplätze, Psychotherapie, psychosoziale und seelsorgerliche Begleitung – und Halt nach der Haft.

Nach acht Jahren Gefängnis war Herr Hauer obdachlos und wurde erneut straffällig. Weitere 13 Jahre Haft folgten. Ohne den Verein für Integrationshilfe, zu dem das Wohnheim Brigitta gehört, hätte er es nicht geschafft. Man wohne hier durchschnittlich einige Jahre. Wenige werden rückfällig. „Ich musste einige wieder vor die Tür setzen, weil sie Gewalt ausübten, mit Drogen dealten oder Geld stahlen“, sagt Pock. Doch viele nützen die Chance, finden eine Wohnung und einen Arbeitsplatz. „Je schneller man auszieht, desto eher schafft man es. Manche wollen aber jahrelang bleiben, wie Kinder, ewig im Hotel Mama. Bei dieser Antriebslosigkeit werde ich krawutisch!“, sagt Pock.

 

„Ratten sind das.“

Ein zweiter Heimbewohner gesellt sich zur Kaffeerunde. Richard Hauer und der Mann kennen sich aus der Justizanstalt Stein. Sie sprechen über Insassen, die wegen sexueller Gewalt an Kindern verurteilt worden: „Ratten sind das.“ Die Sozialarbeiterin widerspricht: „Was sie getan haben, ist schrecklich, aber es sind trotzdem Menschen.“ „Nein, Ratten“, wiederholt der Mann. Gefängnisseelsorger Fellinger bestätigt die Schwierigkeiten beim Zusammenleben in der Haft. „Manche gehen etwa nicht zum Gottesdienst, wenn Kinderschänder eingeladen werden – sie versuchen, eine interne Hierarchie aufrechtzuerhalten, um sich besser zu fühlen“, erklärt er.

Vergebung, ob sich selbst oder anderen gegenüber, sei implizit ein Thema, so der Seelsorger. „Sich verantwortlich zu erklären und mit sich selbst auseinanderzusetzen, ist generell hart“, sagt Fellinger. Im Gefängnis sei es noch auffälliger, aufgrund der existenziellen Erfahrung, verurteilt worden zu sein. Die Gesellschaft als solche könne Strafgefangenen nicht vergeben, da dies ein individueller Akt sei. „Wir eröffnen hier als Gesellschaft zu wenig Chancen“, ist Fellinger überzeugt.

 

Ein gutes Leben?

Im Gefängnis hatte Richard Hauer Zeit für Therapie und Reflexion. Er las, malte und schrieb Briefe an seine Frau, die in Thailand lebt. Seine Kunstwerke belegen nun jeden freien Platz seines Zimmers. Sie zeigen Gitterstäbe, Frauen und fernöstliche Landschaften. Ein gutes Leben wäre für ihn, wieder vereint mit seiner Frau zu leben. Seit 22 Jahren hat er sie nicht mehr gesehen. „Ich bin realistisch: Wenn ich keinen Sechser im Lotto gewinne, klappt das nicht“, sagt er.

 

Diesen August wird Sozialarbeiterin Pock pensioniert. Die 61-Jährige hat dies, trotz aller Herausforderungen, um ein Jahr hinausgezögert. Wie es mit der Beratungsstelle für Haftentlassene angesichts der Sparpläne der Erzdiözese Wien weitergeht, ist offen. Klar ist aber: Es braucht auch in Zukunft Menschen wie Frau Pock, die Haftentlassene mit Herzlichkeit und Hoffnung begleiten.

 


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Ines Schaberger

hat Religionspädagogik und Theologie in Wien, Fribourg und Chur studiert. Die Journalistin ist Gastgeberin des Fadegrad-Podcast, Wort zum Sonntag-Sprecherin im Schweizer Fernsehen und miteinander-Redaktionsmitglied. Sie liebt Berge, Kaffeehäuser und Fragen-Stellen. 

Universität Graz.

 

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