Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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miteinander 1-2/2024
Herr Prof. Manemann, Kirche wird von vielen Gläubigen als etwas begriffen, das für sie das „Gewöhnliche“, das „Normale“ darstellt. Zugleich zerfällt diese Normalität zusehens. Ist dies zu beklagen, oder liegt darin vielleicht auch eine Chance?
Die Rede vom „Normalen“ und „Gewöhnlichen“ kommt häufig unschuldig daher. Dabei ist jede Normalität immer auch Ausdruck einer bestimmten Normativität, die andere und anderes ausschließt. Und das Gewöhnliche ist nicht selten das, was uns bequem und selbstzufrieden macht, teilweise geradezu sediert. Aus solchen Zuständen und Gemütslagen müssen wir ausbrechen. Schließlich hat Gott sich als die Exodusgottheit geoffenbart. Exodus steht für die Befreiung aus Ungerechtigkeit und für den Auszug aus Selbstverständlichkeiten, die zu einem starren Korsett geronnen sind. Das „Normale“ und das „Gewöhnliche“ sind Schwerkräfte, durch die wir an unseren jeweiligen Ort festgebunden werden. Es ist an der Zeit, dass wir uns von diesen Schwerkräften befreien. Kirche ist das Projekt der Liebe Gottes zu den Menschen. Aber unsere Kirchen sind immer mehr zu Schneckenhäusern geworden, in die wir uns zurückziehen. Fragen wir uns: Welche Botschaft liegt in den verlassenen Kirchen? Vielleicht möchte Gott uns mitteilen, dass wir unsere Kirchengebäude verlassen, dass wir ausziehen, dass wir nachfolgen, dass wir zu einer Bewegung werden sollen. Schließlich war Kirche im Anfang eine „Jesus-Bewegung“.
Sie plädieren für ein Verständnis von christlichem Glauben „jenseits bürgerlicher Religion“. Warum? Was ist „schlecht“ an Bürgerlichkeit?
Wir Bürgerinnen und Bürger haben uns der Kirche bemächtigt. Wir haben sie, um mit Johann Baptist Metz zu reden, zu einer Angebots- und Servicekirche gemacht, die unseren Zwecken dient. Das Bürgertum steht hier für eine privilegierte Gruppe, die sich über ihren Besitz definiert und die versucht, die übrige Welt ihren eigenen Bedürfnissen zu unterwerfen. Diese bürgerliche Freiheit drückt sich vornehmlich als eine Form der Selbstbehauptung aus. Ihr ist die politische Dimension abhandengekommen. Sie besitzt kein Bewusstsein mehr davon, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehören, dass Freiheit um der Verantwortung willen auch immer wieder eingeschränkt werden muss, und zwar um der Freiheit anderer willen. Diese Form von Bürgerlichkeit, die sich von ihren Pflichten dispensiert hat, bestimmt auch das Leben von Kirche. Das zeigt sich daran, dass die Kirche eigentlich nur noch über eins trauert: ihren zunehmenden gesellschaftlichen Relevanzverlust. Sie ist zu einer bürgerlichen Kirche mutiert, die mehr Mitleid mit sich als mit der Welt hat.
Die Katholische Kirche scheint sich nur noch mit sich selbst zu beschäftigen. Stichworte sind Synodaler Prozess und auf ortskirchlicher Ebene dauernde Strukturreformen zur Sicherung ihrer Dienste bei gleichzeitigem Exodus ihrer Mitglieder. Wie soll da der „Kairos“ einer revolutionären Umkehr gelingen?
Kirche hätte sich als Lebensform wiederzuentdecken. Das wird ihr aber nur gelingen, wenn sie sich weniger mit sich selbst befasst und sich stattdessen endlich entschieden mit den Problemen von Menschen in der Gesellschaft befasst. Die Kirche hätte sich dazu auf ihre konstitutionelle Kirchlichkeit zu besinnen, ist sie doch in erster Linie eine Nachfolgegemeinschaft. Nachfolge steht für radikale Praxis. Aber in der kirchlichen Pastoral wird der Blick auf christliche Radikalität oft durch das „Pathos existentieller Radikalität“ (J. Moltmann) vernebelt, welches den christlichen Glauben in seiner politischen Dimension stillstellt. Lebendig bleibt der Glaube aber nur im Widerspruch. Unsere Aufgabe ist die Selbsthingabe, die aber nicht mit Selbstaufgabe verwechselt werden darf. Ohne Entäußerung gibt es keine christliche Existenz. Die Institution Kirche darf ihre Hoffnung nicht verwalten. Sie muss sie einlösen.
„Ohne Entäußerung gibt es keine christliche Existenz. Die Institution Kirche darf ihre Hoffnung nicht verwalten. Sie muss sie einlösen.“
Gegen die Klimakatastrophe, für andere Formen demokratischer Repräsentanz etc. setzen sich viele Menschen und Gruppen ein. Was kann da ein „revolutionäres Christentum“ noch dazulegen? Sind der Appelle zur Rettung des Planeten nicht genug…?
Revolutionäres Christentum steht, um Metz zu erinnern, für eine „Hoffnung auf eine Revolution zugunsten aller, der ungerecht Leidenden, der längst Vergessenen, ja auch der Toten“. Durch die Erinnerung einer Hoffnung für die Untergegangenen erhält gegenwärtiges Engagement eine Tiefenstruktur, durch die vergangene Kämpfe mit gegenwärtigen verknüpft werden. Des Weiteren geht es im „revolutionären Christentum“ um das Reich Gottes. Dadurch stellt sich immer auch eine die jeweilige Revolution überscheitende Perspektive ein. Revolution ist etwas, das – um mit dem Theologen Helmut Gollwitzer zu sprechen – an uns geschehen muss. Es geht nicht nur um eine Zukunft, die wir handelnd erkämpfen, sondern auch um eine Zukunft, die auf uns zukommt. Es geht, so Gollwitzer, nicht nur um Zukunft als futurum, sondern immer auch um Zukunft als adventus. Eine solche Revolution vermag zu bewahren und zu verändern. Revolutionäres Christentum steht überdies für den Schutz des Gewissens des einzelnen und „für die Bereitschaft, nach dem Wahrheitsmoment auf der Gegenseite zu fragen und sich dadurch korrigieren zu lassen“ (Gollwitzer).
Was hätte ein solches nachbürgerliches, revolutionäres Christentum noch mit den bestehenden Formen institutionalisierter Form von Kirche zu tun? Wäre die „Initiativkirche“, für Sie plädieren, überhaupt noch kompatibel mit dem, was heute von Kirche noch übrig ist…?
Die Programmatik einer Initiativkirche zielt auf ein Projektsein, dessen Aufgabe die Arbeit an Weltwerdung ist. Kirche hat sich zu bewähren in der Mitarbeit an dem Entwurf, das Leben menschlicher zu machen und zu erhalten. Mit einem anderen Wort: Sie muss politisch sein. Politisch sein heißt, mit anderen Akteurinnen und Akteuren gemischte Allianzen zu bilden und Neuanfänge zu stiften. Das ist natürlich nicht vereinbar mit einer Kirche, die auf Selbsterhalt ausgerichtet ist. Kirche hat nur eine Zukunft, wenn sie endlich ernst macht, mit ihrem eigenen Anspruch, ekklesia, die Herausgerufene, Exodus-Kirche zu sein. Ihre Richtung ist nicht die Esoterik, sondern die Exoterik. Sie muss sich aufs Spiel setzen, um sich neu zu gewinnen.
Dr. Jürgen Manemann
ist Theologe, Politik-
Philosoph und Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover (fiph), das zur Diözese Hildesheim gehört.
Zuletzt erschienen
Jürgen Manemann: Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer. Transcript- Verlag: 2021,
ISBN: 978-3-8376-5906-1, € 18,00