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Aus dem neuen »miteinander«

Nicht den Mut verlieren, Neues wagen

Interview mit P. Andreas R. Batlogg SJ

Als vor 60 Jahren das Zweite Vatikanische Konzil begann, ahnte noch niemand, dass dies zum größten Neuaufbruch der Kirche in der Neuzeit führen würde. Ein Gespräch mit dem Theologen und Konzils-Experten P. Andreas R. Batlogg SJ über ungehobene Potenziale und offene Fragen. Das Gespräch führte Henning KLINGEN

miteinander 1-2/2032

Interview P. Batlogg

Herr Dr. Batlogg, Karl Rahner hat das Konzil den Anfang eines Anfangs genannt. Wenn das stimmt: Was ist denn mit dem Konzil an sein Ende gekommen?

Pater Rahner nannte es das „Ende des pianischen Monolithismus“. Mit Johannes XXIII. endete die Ära der Pius-Päpste. Und es begann ein neuer Stil – auch der Amtsausübung: Nach Jahrzehnten der Abschottung, der Abwehr, lehramtlicher Maßregelungen und eines wuchernden Denunziantentums wollte Johannes XXIII., der ja eigentlich als Übergangspapst gedacht war, mit der Moderne ins Gespräch kommen: wertschätzend und dialogbereit. Sein Programmwort dafür lautete „Aggiornamento“. Es war das Ende der „splendid isolation“: einer um sich selbst kreisenden Kirche, der ganz egal ist, was in der Welt vor sich geht, weil sie sich als einzig wahre „Gegenwelt“ versteht. Der Papst und die Bischöfe lernten auf dem letzten Konzil, die Kirche als Such- und Weggemeinschaft zu verstehen, die gemeinsam unterwegs ist: Zum „pilgernden Gottesvolk“ gehören alle Getauften. An ein Ende gekommen war damit ein monarchisch verstandenes Kirchenbild, eine „Kleriker-“ und „Ständekirche“. Kein Papst, kein Bischof konnte jetzt noch sagen: „Die Kirche, das bin ich!“ Die Kirche ist nicht nur eine lehrende Kirche. Sie ist auch eine lernende Kirche. Auch ihre „Hierarchen“.

 

Ein Konzil muss freilich an der Basis ankommen. Wenn ein Konzil zu Ende ist, beginnt die Arbeit erst – vor Ort. Die Bischöfe können ja beraten und beschließen, was sie wollen. Aber wenn das dann nicht in Diözesen und Gemeinden umgesetzt wird, war es vielleicht eine schöne Gemeinschaftserfahrung für Bischöfe aus aller Welt und eine gigantische Arbeitsleistung ihrer theologischen Berater. Aber es bleibt – Papier. Papier ist bekanntlich geduldig. Bis ein Konzil umgesetzt ist, in den Gemeinden, dauert es.

 

Früher rechnete man mit einer Rezeptionszeit von 150 bis 250 Jahren. Seit dem Reformkonzil von Trient (1545–1563) gab es ja nur das Erste Vatikanum (1869/70), das abgebrochen und vertagt werden musste, und das Zweite Vatikanum (1962–1965). Die Diözesansynoden waren Versuche einer Implementierung der Konzilsbeschlüsse in den einzelnen Ortskirchen. Die Wiener Diözesansynode (1969–1971) war, ebenso wie die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, oft nur „Würzburger Synode“ genannt, die von 1971 bis 1975 tagte, ein groß angelegter Versuch einer Implementierung der Konzilsbeschlüsse.

 

Um ein ganz praktisches Beispiel zu nennen: Das Konzil ermöglichte mit der im Dezember 1963 verabschiedeten Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“, dass die Messe auch in der Muttersprache gefeiert werden kann – was heute ganz selbstverständlich ist. Das war durch die Liturgische Bewegung seit den 1920er-Jahren vorbereitet und wurde teils auch schon praktiziert. Große Namen wie Romano Guardini, Odo Casel (Maria Laach), Pius Parsch (Klosterneuburg) oder Josef Andreas Jungmann SJ verbinden sich damit. Aber bis dann auch überall Volksaltäre eingerichtet waren, weil sich der Priester jetzt zur Gemeinde ausrichtete und ihr nicht den Rücken zeigte, das nahm Zeit in Anspruch. Bis weit in die 1970er-Jahre hinein.

 

Interview P. Batlogg

„Wir sollten aufmerksam auf die ‚Zeichen der Zeit‘ achten. Sonst entwickeln wir uns zu einer sterilen Priester- oder Theologenkirche zurück.“

Innerkirchlich wird immer wieder diskutiert, ob das Konzil in Kontinuität oder Diskontinuität zur Lehrtradition der Kirche steht. Wie bewerten Sie diese Frage?

Das ist eine theologische, auf mich reichlich akademisch wirkende Debatte. Natürlich war das Zweite Vatikanum nur eines von 21 Konzilien. In seiner Eröffnungsansprache am 11. Oktober 1962 betonte Johannes XXIII. aber: „Der springende Punkt für dieses Konzil ist es also nicht, den einen oder anderen der grundlegenden Glaubensartikel zu diskutieren, wobei die Lehrmeinungen der Kirchenväter, der klassischen und zeitgenössischen Theologen ausführlich dargelegt würden. Es wird vorausgesetzt, dass all dies hier wohl bekannt und vertraut ist. Dafür braucht es kein Konzil.“ Viele würden sich jetzt, setzte er fort, „einen Sprung nach vorwärts“ erwarten, „der einem vertieften Glaubensverständnis und der Gewissensbildung zugutekommt“. Die Bedenkenträger, die einen Verrat an der Tradition befürchteten, nannte er „Unglückspropheten“, denen zu widersprechen sei, weil sie „immer nur Unheil voraussagen, als ob der Untergang der Welt unmittelbar bevorstehen würde“.

 

Joseph Ratzinger war ein ebenso aufgeschlossener wie innovativer Konzilstheologe. Er arbeitete Kardinal Joseph Frings (Köln) zu. Nach dem Konzil wurde er kritischer. Auf einer Konferenz verwahrte er sich 1975, zehn Jahre nach Konzilsende, in einer thesenartigen Situationsanalyse dagegen, dass das letzte Konzil „unter Häresieverdacht“ gestellt werde: „Es ist unmöglich, sich für das Vaticanum II und gegen Trient und Vaticanum I zu entscheiden (…). Es ist ebenso unmöglich, sich für Trient und Vaticanum I, aber gegen das Vaticanum II zu entscheiden. Wer das Vaticanum II verneint, negiert die Autorität, die die beiden anderen Konzilien trägt, und hebt sie damit von ihrem Prinzip her auf.“ Zehn Jahre später griff er diese Analyse, inzwischen Kurienkardinal und Chef der Glaubenskongregation, wieder auf. Aber in einem restaurativen Sinn. Und in seiner ersten Weihnachtsansprache an das Kardinalskollegium und die Kurie fragte er als Benedikt XVI.: „Welches Ergebnis hatte das Konzil? Ist es richtig rezipiert worden? Was war an der Rezeption des Konzils gut, was unzulänglich oder falsch? Was muss noch getan werden?“ Und sprach dann von der nachfolgend heftig debattierten „Hermeneutik der Kontinuität“ und der „Hermeneutik der Diskontinuität“ – Begriffe, die bereits 1985 angeklungen waren. Außer Theologen haben wenige verstanden, was er meinte und beklagte.

 

Gab es einen „Bruch“ mit der Tradition oder nicht? Diese Frage ist heute nach meinem Empfinden obsolet. Gab es denn vor dem Zweiten Vatikanum Gewissens- und Religionsfreiheit? Ökumene etwa war ein theologisches Stiefkind. Auf dem Ersten Vatikanum war sie ausdrücklich unerwünscht. Ebenso wie die Haltung der Kirche zur Demokratie. Weil das Zweite Vatikanische Konzil keine dogmatisch verbindliche Lehre vortragen wollte, meinen manche immer noch, man könne allenfalls von „pastoraler Lehrverkündigung“ sprechen. Dadurch ist der Eindruck entstanden, das Konzil könne zur „Verhandlungsmasse“ werden, um restaurativen Kräften entgegenzukommen. Das wäre der Ausverkauf des Konzils. Man kann nicht die Erklärung über die christliche Erziehung „Gravissimum educationis“ anerkennen, aber die Erklärungen über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ und über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“, das Ökumenismusdekret „Unitatis Redintegratio“, die Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ oder die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ dezidiert ablehnen. Die schismatischen Piusbrüder und andere restaurativen Gruppen tun das.

Wir müssen heute deutlich machen, dass alle 16 Texte des Konzils gelten und dass noch viel ungehobenes Potenzial in ihnen schlummert. Auch für aktuelle Probleme.

 

Wo sehen Sie ungehobene Potenziale und Baustellen?

Die Rezeption des Konzils insgesamt ist noch lange nicht abgeschlossen. Der Wiener Weihbischof Helmut Krätzl hat meines Erachtens vollkommen recht, wenn er in seinem gleichnamigen Buch von 1998 konstatiert, das Konzil sei „im Sprung gehemmt“. Gewiss ist die Aufbruchsstimmung, von der Zeitzeugen schwärmen, heute kaum mehr zu vermitteln. Das Konzil ist ein Stück Kirchengeschichte geworden. Den einen ist es bis heute die Mutter aller Übel, die der Kirche widerfahren – den anderen steht es für den „Durchgang des Hl. Geistes durch die Kirche“ (W. Kasper). Tatsächlich halte ich den Vorwurf, das Konzil habe die Kirche mit dem „Aggiornamento“ dem Zeitgeist ausgeliefert, für eine böswillige Diffamierung. Gegen diese Art spitzfindige Umdeutungen tritt nicht zuletzt Papst Franziskus immer wieder auf.

 

In einem bisher nur als Onlineversion zugänglichen, (in der Zeitschrift „Communio“) noch nicht gedruckten Gespräch zum 60. Jahrestag der Konzilseröffnung sagt Kurienkardinal Walter Kasper: „Es breitete sich eine Aufbruchsstimmung aus, die man heutigen Studierenden kaum mehr vermitteln kann. Auch wenn dann selbstverständlich nicht alle unsere Blütenträume aufgegangen sind, so hat das Konzil doch eine Erneuerung und eine Reform der Kirche eingeleitet, wie sie im 20. Jahrhundert keine andere Kirche aufweisen kann. Bisher verschlossene Tore nach außen wurden, wenngleich unter Knarren, aufgetan. Die Kirche entdeckte ihre Katholizität neu. Das Konzil war, und dies nicht nur in der liturgischen Erneuerung, ein Durchgang des Hl. Geistes durch die Kirche.“

 

2022 ist natürlich nicht 2012. Diesmal war es bedeutend stiller als beim 50-Jahr-Jubiläum: Hintergründe verschwinden, die letzten Zeitzeugen sterben weg. Luigi Bettazzi (Jahrgang 1923) ist der letzte noch lebende europäische Konzilsbischof, der nicht müde wird zu betonen, „wie bei der Auslegung der Konzilstexte Weichen gestellt wurden und werden“. Je weiter das letzte Konzil zurückliegt, desto mehr wird dieses Jahrhundertereignis durch die Brille der Nostalgie gelesen oder von „Unglückspropheten“ verteufelt und vereinnahmt. Von „Todsünden“ des Konzils, von tickenden „Zeitbomben“ ist in dem Zusammenhang immer wieder zu lesen, je nachdem mit der Attitüde der Besorgnis oder der Entrüstung.

 

Das Kardinal Giuseppe Siri (1906–1989) – einer der Wortführer einer kleinen, aber wirkungsvollen Gruppe restaurativer Konzilsbischöfe, die sich aus Enttäuschung über den Konzilsverlauf im „Coetus Internationalis Patrum“ sammelten – zugeschriebene Diktum, die Kirche werde „fünfzig Jahre brauchen, um sich von den Irrwegen Johannes’ XXIII. zu erholen“, ist eine stehende Redewendung geworden. Das konstruierte Feindbild lautet: Das Zweite Vatikanum als Mutter aller Übel!

 

Joseph Ratzinger, der ehemalige Papst Benedikt XVI., hat vor wenigen Wochen in einem Schreiben an den Präsidenten der Franziskaner-Universität Steubenville (USA), das veröffentlicht wurde, aus Anlass eines Kongresses über seine Ekklesiologie gemeint, „dass das II. Vaticanum zunächst die Kirche mehr zu verunsichern und zu erschüttern drohte, als ihr eine neue Klarheit für ihren Auftrag zu schenken“. Aber er fügte unmittelbar darauf hinzu: „Inzwischen zeigt sich allmählich die Notwendigkeit, die Frage vom Wesen und Auftrag der Kirche neu zu formulieren. So kommt auch die positive Kraft des Konzils langsam zum Vorschein.“

Wir alle sind dabei auch Lernende. Es braucht den langen Atem mehr denn je. Viele verlieren jetzt – leider – die Geduld. Neue Polarisierungen brechen auf, viele, die längst ins innere Exil gegangen waren, verlassen die Kirche, indem sie austreten.

Lässt sich am Ende auch der aktuelle Synodale Prozess als Frucht des Konzils verstehen?

Ja, das Megathema Synodalität ist ganz eindeutig ein direktes Erbe des Konzils. Und es zeigt sich trotz aller Schwierigkeiten: Es braucht heute mehr denn je ein gemeinsames Suchen nach Lösungen – Bischöfe, Theologinnen und Theologen, Expertinnen und Experten zusammen, eben „das Volk Gottes“, das unterwegs ist. Wir alle sind dabei auch Lernende. Es braucht den langen Atem mehr denn je. Viele verlieren jetzt – leider – die Geduld. Neue Polarisierungen brechen auf, viele, die längst ins innere Exil gegangen waren, verlassen die Kirche, indem sie austreten. Schade! Vom Konzil ließe sich lernen: Es war ein Musterbeispiel der Kommunikation. Das Zweite Vatikanum war gerade keine „Akklamationsveranstaltung“ (wie von manchen gewünscht) oder ein „Konzil der Kopfnicker“.

 

Rahner hat für Kardinal König die Textentwürfe der Kurie begutachtet und einmal gesagt: „Eine solche Wald- und Wiesenphilosophie darf ein Konzil nicht vortragen.“ Er hielt sich nicht zurück mit seiner „Sorge“ über die Texte: „Sie sind alle Ergebnisse einer dürftigen Schultheologie: richtig, ausgewiesen mit genügend vielen Zitaten aus päpstlichen Erklärungen der letzten Jahrhunderte, die vermutlich von denselben Männern verfasst waren, aber bar jeden Charismas einer hellen, siegreichen, Geist und Herz der Menschen von heute gewinnenden Verkündigung. Die Verfasser werden das gar nicht merken.“

 

So was können wir uns heute nicht mehr leisten! Wir müssen sprachlich, aber auch theologisch aufmerksamer auf das achten, was das Konzil die „Zeichen der Zeit“ genannt hat. Sonst entwickeln wir uns zu einer sterilen Priester- oder Theologenkirche zurück. Ich plädiere immer wieder dafür, die Eröffnungsansprache von Johannes XXIII. als geistliche Lektüre heranzuziehen, um dem „Geist des Konzils“ nachzuspüren. Sie war und ist auch theologisch relevant, weil sie zusammen mit den sechzehn Konzilstexten zu lesen ist. Eine Musealisierung des Konzils führt zu nichts. Jubiläen zu begehen, ist das eine. Mit den Texten zu arbeiten, mit dem Erbe des Konzils zu wuchern, das andere.

 

„Die Dynamik der aktualisierten Lektüre des Evangeliums von heute, die dem Konzil eigen ist, ist absolut unumkehrbar“, meinte Papst Franziskus in seinem ersten großen Interview (2013). Neun Jahre später meinte er, ebenfalls gegenüber Chefredakteuren jesuitischer Kulturzeitschriften: „Die Restauration ist gekommen, um das Konzil zu knebeln. Es gibt Ideen und Verhaltensweisen, die von einer Restauration herrühren, die das Konzil grundsätzlich nicht akzeptiert hat.“

 

Rahner hatte schon recht mit dem, was er am 12. Dezember 1965 im Herkulessaal der Münchner Residenz sagte: Es werde „lange dauern, bis die Kirche, der ein II. Vatikanisches Konzil von Gott geschenkt wurde, die Kirche des II. Vatikanischen Konzils sein wird.“ Wichtig ist: Unterwegs bleiben, nicht den Mut verlieren, Neues wagen. Dazu gehört Gottvertrauen. Das ist etwas anderes als Zweckoptimismus. Mir hilft dabei ein Begriff meines Berliner Mitbruders Manfred Hösl: Christen seien „eine GmbH“, nämlich „eine Gesellschaft mit begründeter Hoffnung“. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass uns das letzte Konzil weiterhin inspiriert und weiterbringt.

 


Interview P. Batlogg

P. Andreas R. Batlogg SJ

ist Theologe, Jesuit und ehemaliger Chefredakteur der „Stimmen der Zeit“. Bis 2015 war er außerdem Wissenschaftlicher Leiter des Karl-Rahner-Archivs in München.

 

 

 

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