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miteinander 11-12/2024
Der ist „mit’m 71er g’fahrn“ – so sagt man in Wien, wenn jemand gestorben ist. Heute bringt mich die Straßenbahn aber nicht zu meiner Ruhestätte, nsondern als Flaneur zum Wiener Zentralfriedhof. Mit rund 330.000 Gräbern nist er einer der größten Friedhöfe der
Welt. Neben einem Info-Point und einer E-Buslinie gibt es hier Audioguides oder Fiaker- Rundfahrten. „Ein touristisch erschlossener Ort mit Würstelstand am Eingang, eigenem Museum, einer Konditorei und Ehrengräbern“, sagt Matthias Meitzler, Soziologe an der Uni Tübingen.
"Es scheint, als könne man in der Wiener Kultur
nach wie vor eine enge Bindung zum Tod finden."
Aus der Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Thorsten Benkel, Soziologe an der Uni Passau, entstanden neben zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen zwei Bildbände
zu besonderen Gräbern. Ihre Recherche führte sie auch zum Wiener Zentralfriedhof. „Entstanden sind die Bände aus einem ernsten Forschungsprojekt zur Individualisierung
von Grabstätten in Mitteleuropa“, erläutert Benkel. Bisher haben die Soziologen rund 1.300 Friedhöfe in 26 Ländern besucht und etwa 86.000 Fotos von „posttraditionellen“,
also ungewöhnlichen, Grabsteinen, gesammelt.
Seit 2007 forschen die Soziologen gemeinsam im Bereich der Thanatosoziologie –
der Wissenschaft zur sozialen Bedeutung des Todes in Gesellschaften. „Humor und Tod sind
wissenschaftlich ein interessantes Spannungsfeld“, so Meitzler. Beispiele hierfür wären etwa ein Smartphone als Grabstein oder eine Inschrift in Ostdeutschland, welche besagt: „Guck nicht so blöd, ich würde auch lieber am Strand liegen.“
A schene Leich
Am Zentralfriedhof passiere ich mit Infotafeln und QR-Codes versehene Gedenkstätten. Aus der Ferne erklingen Trompeten eines Begräbnisses. „Hier am Wiener Zentralfriedhof ist ein Ort zum Spazieren und Erkunden, aber auch einer, an dem Menschen weiterhin begraben werden. Generell wird in Wien die Totenkultur sehr gepflegt“, sagt Benkel. Beispiele finde man in Literatur, Musik, Architektur und Gesellschaft. „Nicht umsonst gibt es den Ausdruck ‚A schene Leich‘ oder das Lied ‚Der Tod muss ein Wiener sein‘ von Georg Kreisler“, so Meitzler. Dass der Tod bis heute popkulturell relevant ist, zeigt zudem der Song „Heite grob ma Tote aus“ des Musikers Voodoo Jürgens. „Es scheint, als könne man in der Wiener Kultur nach wie vor eine enge Bindung zum Tod finden. Ein vergleichbares Beispiel zeigt Mexiko mit dem ‚Tag der Toten‘
am 2. November“, sagt Benkel.
Matthias Meitzler und Thorsten Benkel forschen gemeinsam im Bereich der Thanatosoziologie – der Wissenschaft zur sozialen Bedeutung des Todes in Gesellschaften.
Von Falco bis Améry
Beim Spazierengehen sehe ich eine Gruppe Menschen an einem Grab. Sie machen Fotos und Selfies – hier liegt Falco. „Ein opulentes Denkmal, auf dem bis heute Nachrichten, Fotos und Gegenstände, wie High Heels, hinterlassen werden“, so Benkel. Nur 15 Meter entfernt befindet sich ein Grab ohne Inschrift, nur mit einer Zahl – es ist das Grab von Jean Améry, einem Ausschwitz-Überlebenden und Autor, welcher sich 1978 das Leben nahm. Er verfügte, dass seine Häftlingsnummer die einzige Inschrift sein sollte. „Ein starker Kontrast der Grabstätten zwischen farbenfroher Opulenz und mahnendem Minimalismus“, sagt Meitzler.
Am Weg zum Ausgang passiere ich die Ruhestätte von Franz Wenzel Nowy, einem Wiener Heilpflanzenforscher. Das Grab mit Keramikelementen trägt die Inschrift: „Sonne, Kräuter, Wasser, Sand, mancher durch sie Heilung fand.“ In der Straßenbahn denke ich über meine Grabinschrift nach. Etwa „Frech g’born, frech g’storb’n“? Einige haben die Fähigkeit,
dem Tod mit Humor zu begegnen. Ein Talent, dass ich einüben möchte – bis es auch für mich einmal Zeit ist, „mit dem 71er zu fahren“.
Buchtipps
Thorsten Benkel, Matthias Meitzler: Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe. Ungewöhnliche Grabsteine - Eine Reise über die Friedhöfe von heute. KiWi-Verlag: 2014, ISBN: 978-3-
462-04608-3, € 12,00
Thorsten Benkel, Matthias Meitzler: Game Over. Neue ungewöhnliche Grabsteine. KiWi- Verlag: 2016, ISBN: 978-3-462- 04905-3, € 9,99