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Aus dem neuen »miteinander«

Vom Rückgrat der Moral

Editorial aus dem "miteinander" | Ausgabe 9-10 / 2023 - Von Chefredakteur Henning KLINGEN

Es war eine Kleinigkeit, eine trotzige Reaktion meiner Tochter, die mich explodieren ließ. Ich habe sie angefaucht, Türen wurden geknallt, Tränen flossen. Und prompt meldete es sich. Das schlechte Gewissen. War das nicht unfair von mir? Habe ich nicht überreagiert?

Immer wieder fasziniert mich diese seltsame, oftmals quälende Instanz, die in uns wie eine Kompassnadel ausschlägt. Im Kleinen, wie im erwähnten Familienkonflikt, ebenso wie im Großen, wenn es etwa um das Jahrhundertthema der Klimakrise geht. Ich verstehe z. B. nicht, wie man noch guten Gewissens fliegen kann, wenn es auch klimaschonendere Alternativen gibt. Flugscham – ein anderes Wort für das schlechte Klimagewissen. Letztlich bildet das Gewissen das Rückgrat unseres Selbstverständnisses als moralische Wesen. Wir können uns entscheiden – für das Gute oder für das Schlechte. Und wohl auch für irgendwas dazwischen.

"Wir können uns entscheiden – für das Gute oder für das Schlechte."

Diese Fähigkeit zur Abwägung und zum moralischen Handeln unterscheidet uns vom Tier. Doch was bildet das Gewissen? Was sorgt dafür, dass dem einen bereits eine kleine Lüge wie ein Stein auf der Seele liegt, während die andere kein Problem damit hat, nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“ zu leben? Gern wird da die Religion bemüht. Das Gewissen – das ist doch die Stimme des Herrn, die uns in die Seele, ins Herz flüstert. Doch so einfach dürften die Dinge nicht liegen. Denn im Umkehrschluss würde das bedeuten, dass säkulare Gesellschaften ruchloser, unmoralischer, gewissenloser sind. Dafür gibt es jedoch keine Beweise. Es wäre wohl auch eine vermessene Arroganz, die uns Christen nicht zusteht.

 

Verantwortung füreinander

Ich bin überzeugt, im Gewissen kommt eine Vielzahl an Erfahrungen zusammen: Erhebende Erlebnisse ebenso wie Niederlagen und Schmerzhaftes. Erlebnisse in der Familie, im Freundeskreis, in der Begegnung mit Fremden, mit der Natur. Dies alles scheint mir wesentlich prägender für das Gewissen zu sein als die Vorstellung eines Gottes, der mir mit erhobenem Zeigefinger in die Seele flüstert. Spielt Religion also gar keine Rolle? Doch – indem sie die Idee konserviert, dass wir verantwortlich sind. Dass wir einstehen müssen für das, was wir tun. Wenn Gott unser Gewissen bildet, dann indem er in uns das Bewusstsein Platz greifen lässt, dass wir füreinander verantwortlich sind, dass wir dem Nächsten verpflichtet sind.

 

Der Streit mit meiner Tochter nagte übrigens so lange an mir, bis ich mich entschuldigt habe. Und bis ich so einmal mehr merkte, wie gut ein entlastetes Gewissen tut, wenn die Tränen des Kindes abgewischt sind und es mich wieder anstrahlt.


 

miteinander-Chefredakteur Dr. Henning Klingen

miteinander-Chefredakteur Dr. Henning Klingen

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