Mag. Lukas Cioni
Redaktionsleiter / Chef vom Dienst
miteinander-Magazin
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Dahinter steht die Erfahrung, dass es zum Menschsein dazugehört, für andere da zu sein; dass es niemanden gibt, der für sich allein lebt. In der Vorstellungsrunde haben wir gemerkt: Wenn wir unsere Gedanken darauf richten, wem unser Dienst gilt, sind wir auch schnell dort, wo unsere größten Kräfte liegen. Letztlich kommen wir durch diese einfache Frage zum Kern dessen, was unsere Berufung ausmacht. Papst Franziskus empfiehlt deshalb den Jugendlichen und jungen Erwachsenen in seinem nachsynodalen Schreiben „Christus vivit“, genau diesem Gedanken nachzugehen, um der eigenen Berufung auf die Spur zu kommen: „Für wen bin ich da?“
Diese Frage hat dadurch an Relevanz gewonnen, dass wir gesellschaftlich gesehen heute viel weniger festgelegt sind als früher. Aus Sicht der Berufungspastoral ist es zu begrüßen, dass der Einzelne stärker auf seine eigenen Fähigkeiten schauen kann, um diese – auch auf neuen Wegen – einzubringen. Zudem wird ersichtlich, dass nicht nur jeder Einzelne eine Antwort auf die Frage, für wen wir da sein wollen, finden muss. Auch für Institutionen gelten die bisherigen Selbstverständlichkeiten nicht mehr, sie werden infrage gestellt.
Kirche: Für alle da?
Das betrifft auch die Kirche: Wir schauen oft auf die hohen Austrittszahlen und führen Befragungen durch, was sich ändern müsse, damit weniger Menschen aus der Kirche austreten. Das ist an sich nachvollziehbar. Es lenkt den Blick allerdings in die falsche Richtung. Wir orientieren uns dabei an denen, die unzufrieden sind. Eine andere Perspektive wäre hingegen erheblich interessanter und auch lohnender: „Was bestärkt diejenigen, die momentan Kirche bilden? Was kann helfen, damit diese Menschen ihren Glauben selbstbewusst leben können?“ Denn wichtiger, als Austritte zu verhindern, ist es, Eintritte in unsere Gotteshäuser zu fördern.
Nachdem die hohen Austrittszahlen des vergangenen Jahres veröffentlicht worden waren, hatte ich unter meinen „Followern“ bei Instagram eine Umfrage gestartet. Die erste Frage war: „Könnt auch ihr euch vorstellen, aus der Kirche auszutreten?“ Etwa 20 Prozent gaben daraufhin an, dass sie das schon in Erwägung gezogen haben. Mit ihnen habe ich Kontakt aufgenommen und erfahren, dass oft persönliche Enttäuschungen dafür ausschlaggebend waren.
Noch viel interessanter waren die Antworten auf die Frage, die ich im Anschluss daran stellte: „Was hält euch in der Kirche?“ „Jesus Christus“ war eine der meistgenannten Antworten. Auch die Gemeinschaft der Glaubenden war für viele bedeutsam. Genannt wurden mehrfach die Sakramente, die Liturgie und das Gebet, der persönliche Glaube und die schönen Traditionen
der Kirche.
Starke Angebote
Hier liegt meines Erachtens eine wesentliche Erkenntnis, um die Frage zu beantworten, für wen die Kirche da ist. Sie soll für alle da sein, die in Jesus Christus Sinn und Orientierung suchen. Sie sollte diesen Menschen ein starkes Angebot machen. Vielleicht sind das zahlenmäßig nicht so viele, aber sie können zu wahrhaften Zeugen des Evangeliums werden. Sie werden anderen berichten können, woraus und wofür sie leben. So entsteht und wächst Gemeinde. Wenn man allerdings die Ansprüche herunterschraubt, um niemanden zu verprellen, wird man auch für all jene uninteressant, die im Evangelium Antworten für ihr Leben suchen und die selbst als Multiplikatoren andere dafür begeistern können. Es ist paradox: Je mehr wir „alle“ erreichen wollen, desto weniger Menschen werden wir ansprechen. Das soll nicht bedeuten, dass Kirche nur für wenige da sein oder möglichst hohe Hürden errichten soll. Im Gegenteil. Es geht darum, sich jenen zuzuwenden, die tatsächlich für den Glauben an Jesus Christus offen sind und die diesen Glauben in Gemeinschaft leben möchten.
Noch etwas: Selbst wenn wir an dem Anspruch festhalten wollen, alle zu erreichen, müssten wir uns noch etwas anderes eingestehen: Wir haben gar nicht mehr die Ressourcen, alle anzusprechen. Stellen wir uns nur mal vor, was los wäre, wenn tatsächlich so viele Gläubige zur Beichte kämen, wie es der Lehre der Kirche entspricht. Vermutlich wären wir der Sache schon rein zeitlich nicht mehr gewachsen.
An dieser Stelle wird auch eine strukturelle Überforderung deutlich. Wenn ich den Anspruch
habe, „alle“ erreichen zu wollen, tatsächlich aber nur einen Bruchteil wirklich anspreche, führt das notwendigerweise zu einer fortgesetzten Enttäuschung und damit zu einem Gefühl des Versagens, das einem mit der Zeit auch etwas von der Freude nimmt, die der Glaubende doch
eigentlich ausstrahlen sollte.
Woher kommt eigentlich der Anspruch, für „alle“ da sein zu wollen? Sicherlich spielt der Missionsauftrag Jesu am Ende des Matthäus-Evangeliums eine wichtige Rolle: „Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern.“ Die Botschaft Jesu ist an alle gerichtet. Wenn wir in seiner Nachfolge stehen, gehört dieser universale Appell notwendig zu uns.
Kirche für Sinnsuchende
Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass das auch immer gelingt. Jesus weiß darum, dass die Jünger, die er aussendet, mit der Botschaft des Reiches Gottes auch auf Ablehnung stoßen werden. In einem solchen Fall empfiehlt er ihnen: „Dann geht weiter und schüttelt den Staub von euren Füßen.“ (Mt 6,11) Der Apostel Paulus schildert eindringlich seinen erfolglosen Versuch, die Bewohner von Athen mit der Botschaft des Evangeliums zu erreichen. Er muss unverrichteter Dinge weiterziehen. Das ist aber nicht weiter tragisch, es gibt anderenorts genügend Menschen, die sich für das Evangelium begeistern lassen. Das sagt uns: Wenn wir nicht alle Menschen erreichen, dann liegt das nicht an uns. Entscheidend ist, sich mit ganzer Kraft einzusetzen und denjenigen zuzuwenden, die für Jesus Christus und sein Reich offen sind.
Sogar Jesus selbst geht nicht zu „allen“ Menschen. Er hat auch nicht einfach „alle“ Kranken geheilt oder gar „alle“ Toten erweckt, sondern an einzelnen Personen gehandelt, um sein Wirken für die Welt exemplarisch sichtbar zu machen. Durch dieses Handeln hat Jesus seine Sendung verdeutlicht. Wir können ihm als Kirche hier folgen. Es kommt nicht darauf an, für „alle“ da zu sein, sondern „ganz“ da zu sein. Das heißt für uns, dass wir uns denen ganz widmen, die dafür offen und bereit sind. Für sie ist Kirche, sind wir da!
Michael Maas ist Priester der Erzdiözese Freiburg.
Von 2014 bis Sommer 2021 war er Direktor des Zentrums für Berufungspastoral. Ab Herbst 2021 ist er Pfarrer in der Seelsorgeeinheit Staufen-St. Trudpert.