Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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miteinander 1-2/2024
„Ich seh‘, ich seh‘, was du nicht siehst“ ist nicht nur ein Spiel, das Kinder lieben, sondern als Achtsamkeitsübung zeigt es, dass wir selbst bei geöffneten Augen nicht immer (gleich) alles sehen können, was uns umgibt. Wobei hier noch einmal zu unterscheiden wäre, denn „sehen“ bedeutet noch etwas anderes als „schauen“, um das es hier eigentlich geht. Im alltäglichen Gebrauch kaum auseinandergehalten, bezeichnet „sehen“ die passive Sinneswahrnehmung, also das, was Menschen dauernd machen, wenn sie ihre Augen nicht geschlossen haben. Wer schaut, der lenkt hingegen seinen Blick bewusst auf etwas oder jemanden. Zu aller Verwirrung kommt hinzu, dass die Begriffe regional unterschiedlich gebraucht werden – vom in Österreich oft noch verpönten Wort „gucken“ gar nicht zu sprechen.
Augen, die nicht sehen
Man könnte sagen: Macht nichts, denn in der Bibel ist ohnehin das Hören wichtiger als das Sehen. Gott offenbart sich besonders durch das Wort, das vom Volk Israel gehört wird – oder zumindest gehört werden soll. Mit der Menschwerdung Gottes in Jesus wird die Wirklichkeit Gottes für den gläubigen Menschen sichtbar. Jesus misst dem Sehsinn ja auch eine Bedeutung bei, wenn er etwa einen blind geborenen Mann – ganz anschaulich mit einem Gemisch aus Speichel und Erde – heilt oder im übertragenen Sinn vom „Blindsein“ und „Sehen“ spricht. Nicht zuletzt lässt er sich als Auferstandener „er-blicken“.
Der sinnlich wahrnehmbaren „Erscheinung des Herrn“ ist in den christlichen Kirchen ein eigener Feiertag gewidmet, der ursprünglich das Geburtsfest Christi darstellte. Die meisten kennen das am 6. Jänner begangene Hochfest wohl eher unter dem volkstümlichen Namen „Dreikönigstag“, bei dem sich durch die Anbetung der Weisen aus dem Morgenland die Göttlichkeit des Neugeborenen in Bethlehem offenbart. Es wird aber auch gefeiert, dass sich Gott in der Taufe im Jordan und beim ersten Wunder bei der Hochzeit von Kana in der Person von Jesus „sehen lässt“.
Edle Einfachheit
Im Gottesdienst gibt es nicht nur viel zu sagen und zu hören, sondern christliche Liturgie lebt besonders von der nonverbalen Sprache: Wir feiern durch sichtbare Zeichen und Symbole und vollziehen mit den Augen vernehmbare rituelle Handlungen, die nicht einfach schönes Beiwerk sind, sondern zum Wesen des Gottesdienstes selbst gehören. Aufmerksames, bewusstes Schauen ist deswegen eine Form tätiger Teilnahme.
In einer reizüberfluteten Welt sind unsere Sinne dauernd gefordert, sodass sogar das „Schauen“ zur Herausforderung wird und geübt und geschult werden soll. Wir sehen, ohne aufzunehmen, was wir sehen, und wir sehen zu, ohne teilzunehmen. Es braucht also gleichzeitig ein Weniger in der Menge an Eindrücken und ein Mehr in deren Qualität. Das Zweite Vatikanische Konzil sprach vom „Glanz edler Einfachheit“, an dem sich die Reform der Gottesdienste orientieren solle. Nicht zu verwechseln mit unansehnlicher Dürftigkeit. Gottesdienst und Kirchenraum dürfen so gestaltet sein, dass sie die Verbindung zur himmlischen Liturgie sichtbar machen und Gottes Herrlichkeit aufleuchten lassen. Das kann für jeden anders aussehen, sodass auch hier gilt: „Ich seh‘, ich seh‘, was du nicht siehst.“
Dr. Daniel Seper
ist Professor für Religionspädagogik an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems
und Redaktionsmitglied des miteinander-Magazins.