Mag. Lukas Cioni
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Jürgen Manemann: Im Mitleid leidet der Mensch persönlich am Leid des anderen. Es ist diese Leidempfind-lichkeit, die Menschen erkennen lässt, dass der andere Mensch zuerst Mensch ist und erst dann Mitglied einer Kultur oder Religion.
2013 wurde als Reaktion auf den gewaltsamen Tod des schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin von drei Aktivisten der Hashtag #BlackLivesMatter in die mediale Öffentlichkeit gepostet. Die in dem Hashtag enthaltene Empörung löste eine Bewegung aus, die gerade heute immer größere Dynamik entfaltet, und das nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Eindringlich schildert der BLM-Aktivist DeRay Mckesson die Bedeutung dieses Protests:
„Protest heißt, in der Öffentlichkeit die Wahrheit zu sagen. Manchmal bedeutet Protest, die Wahrheit einer Öffentlichkeit zu sagen, die noch nicht bereit ist, sie zu hören. Protest ist auf seine eigene Weise ein Erzählen. Wir setzen unseren Körper, unsere Worte, unsere Kunst und unsere Töne ein, um die Wahrheit über den Schmerz zu sagen, den wir erdulden, und um die Gerechtigkeit zu fordern, von der wir wissen, dass sie möglich ist.“
Leiden am Leiden des anderen
Wer wissen will, was es heißt, ein Mensch zu sein, muss mit solchen Erfahrungen beginnen. In ihnen kommt eine leidempfindliche Humanität zum Ausdruck. Der Philosoph Cornel West, selbst aktiv in der Black-Lives-Matter-Bewegung, hat, von solchen Erfahrungen ausgehend, die Menschen als zweibeinige, sprachbegabte und mit Bewusstsein ausgestattete Kreaturen beschrieben, die fähig sind zu begehren und zu wünschen. Von Geburt an sind diese Kreaturen alt genug zum Sterben, aber dennoch sind sie mit Einfallsreichtum und Neugierde begabt, die sie befähigen, Visionen und Hoffnungen für eine bessere und gerechtere Gesellschaft zu entwickeln. All das tun sie in einer Umwelt, die sie nicht selbst gewählt haben. Sie wurden nie gefragt, ob sie überhaupt geboren werden wollten. Ihre Existenz verdankt sich vielen Zufällen. Menschen, so West weiter, sind fragile Organismen, die ihr Leben angesichts der Schrecken der Natur, des Terrors und der Katastrophen der Geschichte, der Grausamkeiten des Schicksals und des Glücks leben müssen.
Das menschliche Vermögen zur leidempfindlichen Humanität gründet in dieser fragilen Konstitution. Jeder Mensch besitzt aufgrund dieser Fragilität Erfahrungen von Schmerzen und Leid. Ein leidender Mensch darf deshalb unterstellen, dass ein anderer Mensch seine Schmerzen und sein Leid auch nicht ertragen möchte und beides ablehnt. Aus Leidempfindlichkeit kann Mitleidsfähigkeit erwachsen. Im Mitleid leidet der Mensch persönlich am Leid des anderen. Es ist diese Leidempfindlichkeit, die Menschen erkennen lässt, dass der andere Mensch zuerst Mensch ist und erst dann Mitglied einer Kultur oder Religion. Auf der Basis dieser Empfindlichkeit wächst eine Empfindsamkeit, die die Voraussetzung dafür ist, die Würde eines anderen Menschen erkennen und anerkennen zu können.
Verwundbarkeit und Solidarität
Die Humanität sensibilisiert dafür, dass menschliches Leben „gefährdetes Leben“ (Judith Butler) ist: durch Tod, Krankheit, Verwundbarkeit, Unfälle, Unsicherheiten und Gewalt. Neben dieser allgemeinen Gefährdetheit gibt es aber auch Gefährdungen, die hergestellt sind und denen nicht alle Menschen gleich ausgesetzt sind. Es gibt Menschen, deren Körper besser geschützt sind als die anderer. Diese Erkenntnis ist heute dringender denn je. Denn eine differenzsensible Wahrnehmung von Verwundbarkeit besitzt das Potenzial, ein Solidaritätsempfinden mit den Menschen hervorzurufen, die aufgrund spezifischer Verwundbarkeiten und Verwundungen stärker gefährdet sind als andere.
Aber die Wahrnehmung von Verwundbarkeit führt nicht zwangsläufig zu Solidarität. Sie birgt auch Risiken in sich. Potenzielle Verwundbarkeit geht nämlich immer auch mit der Gefahr des Missbrauchs einher.
Der Furcht widerstehen
Gewalt gegen andere Menschen resultiert häufig aus Furcht vor dem eigenen Menschsein, aus Furcht vor der eigenen Schwäche, vor der eigenen Endlichkeit und Verwundbarkeit. Um der Furcht vor dem eigenen Menschsein zu widerstehen, sind Menschen auf Lebensformen angewiesen, die ihnen „die Botschaft vermitteln, dass alle Menschen verletzlich und sterblich sind und dass dieser Aspekt des menschlichen Lebens nicht hassenswert und abzulehnen ist, sondern [das menschliche Leben auszeichnet und, J. M.] durch gegenseitige Anerkennung und Hilfe aufgefangen werden kann“, so die Philosophin Martha Nussbaum.
Angesichts der Konfrontation mit Endlichkeit tritt noch ein weiterer Aspekt der Humanität in den Blick: Etymologisch kann der Begriff Humanität von „humare“ abgeleitet werden. Dies lässt sich mit „bestatten“, „beerdigen“, „begraben“ übersetzen. Mit Humanität wäre somit die Fähigkeit bezeichnet, den anderen Menschen würdevoll zu begraben. Diese Fähigkeit ist tief in den Kulturgeschichten der Menschheit verwurzelt. Vielleicht ist sie das Fundament von Moralität überhaupt, da es sich hierbei um einen Dienst am anderen Menschen handelt, den dieser nicht mehr erwidern kann. Der Umgang mit den Toten hat somit Konsequenzen für unser Verständnis von Humanität.
Heute gibt es Bestrebungen, die Fragilität menschlichen Lebens zu beseitigen. Ein „Neuer Mensch“ soll nach Design-Spezifikationen und technischen Standards maßgeschneidert werden. Diese Umrüstung des Menschen hätte einen hohen Preis. Mit ihr käme uns unsere Humanität abhanden: die Fähigkeit, die Verwundbarkeit des anderen Menschen, „seine Schwächen und sein Leiden, aber auch seinen einzigartigen Kampf um Behauptung seiner Menschlichkeit mit(zu)fühlen und mit(zu)erleben“. Eine Gesellschaft, die die Schwäche für die Verwundbarkeit anderer, das „In-Humanität-Fallen“ (Emmanuel Lévinas), auszuschalten versucht, wird einen Hass auf den Menschen produzieren.
Zur Person
Dr. Jürgen Manemann ist Direktor des von der deutschen Diözese Hildesheim getragenen „Forschungsinstituts Philosophie Hannover“ (fiph). Zuvor war der Theologe und Politikphilosoph Professor für Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Universität Erfurt.