Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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miteinander 7-8/2022
Wenn wir uns im Berufsstress wie ein Hamster im Laufrad fühlen, träumen wir gern von innerer Gelassenheit. Gleichzeitig schenkt uns operative Ruhelosigkeit das Gefühl von Wichtigkeit. Darum verlassen viele das Hamsterrad nicht freiwillig, sondern weil der Herzinfarkt oder das Burnout sie aus der Bahn schleudern. Nicht jeder Mensch, der ruhig und abgeklärt
wirkt, praktiziert bereits Gelassenheit. Die stoischen Philosophen im antiken Griechenland
verstanden unter Gelassenheit eine emotionale Unerschütterlichkeit. Der gelassene Mensch steht aber nicht über den Dingen. Gleichgültigkeit ist pervertierte Gelassenheit.
Gelassenheit kann daher auch nicht darin bestehen, Menschen, Dinge oder Erlebnisse loszulassen im Sinne einer Abspaltung.
Die Verben „frei lassen“, „sein lassen“ oder „gehen lassen“ entsprechen eher der inneren Bezogenheit in der Gelassenheit. Inneres Freilassen und Freiwerden üben wir auf unterschiedliche Weise: mit Meditation, Bewegung in der Natur, Schreiben im Tagebuch, Atemübungen, künstlerischem Schaffen, Feiern von Ritualen oder in seelsorglichen Gesprächen.
Gelassenheit = Hingabe
Echt gelassen sind wir dann, wenn wir das ängstliche Hängen am eigenen Ego und
an unserer Existenz überwinden. Es war Meister Eckhart, der den Ausdruck Gelassenheit
vor 700 Jahren gleichsam schuf: „Wer sich gänzlich auch nur einen Augenblick ließe, dem würde alles gegeben. Der Mensch, der gelassen hat und gelassen ist und der niemals mehr nur einen Augenblick auf das sieht, was er gelassen hat – dieser Mensch ist gelassen." Radikale Gelassenheit vollzieht sich daher letztlich in der Hingabe an Gott. Kurz und knapp formulierte dies Niklaus von Flüe vor 550 Jahren: „Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir. Gib alles mir, was mich führet zu dir. Nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.“ In einer Welt, in der man fast alles technisch verändern kann, ist es nicht leicht, zu unterscheiden, ob wir einen Missstand als unvermeidbares Schicksal hinnehmen oder mutig verändern sollen. Echte Gelassenheit
basiert darum neben der Weisheit auch auf einer radikalen Ehrlichkeit uns
selbst gegenüber. Gelassensein fällt umso schwerer, je mehr Engagement, Leidenschaft und Herzblut wir in eine Beziehung oder in ein Projekt legen, je höher der Energieaufwand und die Tatkraft liegen und je stärker unsere Einbindung, Identifikation und Hingabe sind. Engagierte Gelassenheit bildet die Bergetappe auf unserem spirituellen Weg. Spirituell Suchenden werden dafür fünf Trainings-Wege.
Lukas Niederberger
ist als ehemaliger Jesuit Leiter des Schweizer Bildungszentrums Lassalle-Haus. Seit 2013 setzt er sich als Geschäftsleiter der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für zivilgesellschaftliches Engagement ein.
▶ Lukas Niederberger
Lukas Niederberger: Rituale. Dem Alltag, dem Jahr, dem Leben Struktur geben. Verlag Patmos 2020.