Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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miteinander 5-6/2022
Die Bibel lädt den Menschen ein, schöpferisch und frei, verantwortlich und gestalterisch dem gegenüberzutreten, was er vorfindet. Sich darauf einlassen, dass der Mensch als Abbild Gottes geschaffen ist, männlich und weiblich, wie es in Gen 1,26f heißt, bedeutet, dass er durch alle Gendererfahrungen hindurch zu schöpferischer Freiheit berufen ist. Die Natur muss weder statisch bewahrt noch romantisch idealisiert werden. Sie schlägt auch nicht wie eine Schicksalsgöttin zurück, weil der Mensch sie ausgebeutet hat. Vielmehr ist sie in ihrer rohen Gewalt, in Krankheit und Tod, die zu ihr gehören, wie auch in ihrer bezaubernden Faszination und Schönheit ambivalent und gestaltungsoffen. Der Mensch kann sich in ihr nicht unschuldig ernähren und nicht unschuldig leben. Er ist Teil davon. Doch er ist auch mehr. In seiner Freiheit kann er ihr ein Stück gegenübertreten, sie als Lebensraum für möglichst viele Geschöpfe und sich selbst mitgestalten.
Dass es der Bibel um Freiheit und Gerechtigkeit geht, wird in ihrem zweiten Buch besonders deutlich: Gott führt die Israeliten aus der Sklavenarbeit Ägyptens heraus. So beindruckend die Kulturleistungen der Pharaonen sind, die Gesellschaft lebt von Ausbeutung. Jemand muss die Kosten bezahlen. Wie jede Kultur, so hat auch das glänzende Ägypten eine Leiche im Keller. Gott befreit davon. Er lässt die Israeliten das Pessachfest feiern, führt sie durch das Rote Meer in die Wüste und schenkt ihnen am Sinai die Zehn Gebote. Es ist eine Ethik für eine neue Gesellschaftsordnung, die nicht auf Unrecht aufgebaut ist. Gott allein will König sein. Keinem Götzen soll mehr geopfert werden.
Diesen Weg in die Freiheit lernen die Israeliten nur langsam. Mühsam ist der Weg hin ins Gelobte Land, doch die Vision steht vor Augen. Freiheit in Gerechtigkeit ist die Kernbotschaft und Frohbotschaft des Alten Testaments. Unentwegt rufen die Propheten dazu auf. Gerade die Moderne, die sich so säkular gibt, ist davon zutiefst geprägt: Die Französische Revolution siegte mit dem Slogan liberté, fraternité, egalité. Die Gründerväter der USA sind mit dem Anspruch aufgetreten, Nordamerika in ein Gelobtes Land zu verwandeln. Noch die US-Bürgerrechtsbewegung eines Martin Luther King in den 1960er-Jahren ließ sich von Gospelsongs inspirieren: When Moses was in Egypt’s Land, let my people go. Ebenso knüpfte die Befreiungstheologie Lateinamerikas an den Exodus an. Und heute in Europa? Nach zwei Weltkriegen hat sich eine freiheitliche Gesellschaftsordnung durchgesetzt. Sie droht jedoch, in ihr Gegenteil zu kippen. Denn einerseits wird die Freiheit so individualistisch verstanden, dass Solidarität und Gemeinsinn verloren gehen. Das Miteinander löst sich auf. Gerechtigkeit wird ausgehöhlt. Andererseits verstrickt sich der Einzelne in einer deregulierten Gesellschaft wie in einem Dschungel. Er verliert sich in der digitalisierten Welt und schließt sich in Social- Media-Blasen ein. Zwischen Fiction, Fake und Wahrheit kann er nicht mehr unterscheiden. Freiheit aber ist nicht Willkür, ist nicht nur Wahlfreiheit. Freiheit ist ein Wert, der von Verantwortung und Gerechtigkeit nicht getrennt werden kann.
Das Zehn-Wort vom Sinai zeigt exemplarisch, dass es Gebote und Weisung braucht, Normen und Ethik, um den Freiraum zu gestalten. Frei-werden-von führt immer zur Frage frei-werden wofür. Wofür setzt der Mensch die gewonnene Freiheit ein? Wofür lohnt es, zu leben? Was macht Sinn? Religiöse Vorschriften sollen immer Weisung für das Leben sein. Gebote müssen im Dienst größerer Freiheit stehen. Im freiheitsschwangeren 16. Jahrhundert hat Martin Luther in seinem Buch Von der Freiheit eines Christenmenschen daran erinnert,
dass Freiheit nicht absolut ist. Sie bestehe in einem Paradox, sich ganz Christus und Gott zu unterwerfen. Wer nur noch Gott gehorcht, ist allen anderen Dingen gegenüber
frei. Ja, Jesus Christus steht ganz in der jüdischen Tradition. Das Letzte Abendmahl,
in dem er sich hingibt, war ein Pessachmahl. Hingerichtet wurde er am Fest des
Exodus. Seine Jünger und Jüngerinnen haben sofort verstanden: Er will alle frei
machen. Er zahlt selbst den Preis für eine gerechte Gesellschaft, in der keine Gewalt
mehr herrscht. Sich auf seine Gebote einzulassen und ihm nachzufolgen, führt zur
Fülle des Lebens, wie das Johannes-Evangelium formuliert. Sein Joch ist leicht. Doch
gerade Paulus musste erleben: Ich tu, was ich nicht will. Wenn auch äußerlich frei, so noch lange nicht innerlich.
Innere Zwänge und psychische Muster prägen den Menschen. Aus Angst vor der Ungewissheit und dem Leiden, die zum Leben gehören, erstarrt der Mensch. In die rohe Natur geworfen, kann er nicht anders. Ein sklerotischer Schatten bildet sich, wie die Tiefenpsychologie heute formuliert. Wieder legte das Freiheitspathos der Renaissance Wege zur inneren Freiheit offen: Ignatius von Loyola, ein Zeitgenosse Luthers, schafft mit den Exerzitien einen spirituellen Übungsweg. In geistlicher Begleitung soll sich der Mensch eine Zeit in die Abgeschiedenheit zurückziehen: ins Schweigen gehen; keine Ablenkung von und keine Flucht nach außen; jede Zerstreuung unterbinden; keine Projektionen der eigenen Unerlöstheit auf andere erlauben; sich nur auf Gott werfen.
So eröffnet sich dem Menschen durch Meditation und Gebet die innere Seelenlandschaft. Sie kann durchpilgert werden. Alles Unheile und Erstarrte, alle Schatten und heimlichen Wunden lassen sich in Gottes Liebe verwandeln und lösen. Die eigene Seele wird im göttlichen Feuer geläutert, um frei und schöpferisch aus der eigenen Mitte heraus zu leben.
P. Dr. Christian Rutishauser SJ
ist Schweizer Jesuit, arbeitet im Bereich jüdisch-christlicher Dialog und christliche Spiritualität; seit 2021 ist er Delegat für Schulen und Hochschulen der Zentraleuropäischen Provinz.
Christian Rutishauser: Freiheit kommt von innen. 22,– Verlag Herder: 2021.