Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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miteinander 3-4/2022
Jeden Tag sterben etwa 150 Tier- und Pflanzenarten aus, für immer. Wer von uns vermag das Unfassbare zu erfassen? Dennoch müssen wir versuchen, uns dieses Leid immer wieder neu vorzustellen, wir müssen versuchen, zu begreifen, was um uns herum geschieht – das verlangt viel von uns, vielleicht zu viel.
Angesichts des Unfassbaren schwindet die Hoffnung. Wie sollen wir damit umgehen? Einige werden apathisch. Und das ist nur allzu gut nachvollziehbar. Andere wiederum werden traurig. Und diese Trauer wiegt schwer. Sie kann in Verzweiflung münden. Sie kann aber auch Platzhalterin von Hoffnung sein. Wenn wir nämlich gemeinsam trauern und wenn diese Trauer uns zum Handeln motiviert, entsteht vielleicht ein Milieu, in dem neue Hoffnung aufblitzen kann. „Die Seele der Trauer“, so hat es der Philosoph Burkhard Liebsch gesagt, „ist der Protest“. Wenn Trauer Protest wird, und wenn Protest sich in Aktion manifestiert, dann kann so etwas wie Möglichkeitssinn aufscheinen.
Der Philosoph Theodor W. Adorno hat das in die Sentenz gepresst: „Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles.“ Jede noch so kleine widerständige Veränderung, die wir handelnd ermöglichen, offenbart uns: Anderes ist möglich! Veränderndes Handeln gebiert Möglichkeitssinn und den benötigen wir dringend, leiden wir doch an zu viel sogenanntem Realitätssinn.
Mit der Trauer beginnen
Die Hoffnung stirbt. Wir müssen mit der Trauer beginnen. Diese Trauer konfrontiert uns mit der Frage, warum wir der Kirche die Leidensgeschichte der nichtmenschlichen Lebewesen so wenig oder überhaupt nicht ansehen. Die hier gemeinte Trauer ist „Hoffnung im Widerstand“ (J. B. Metz), mit einem anderen Wort: Schöpfungscompassion.
„Compassion“ heißt „Mitleidenschaft“ (J.B. Metz). Mitleidenschaft steht für die Gleichursprünglichkeit von Passivität und Aktivität: Sie weckt das Bedürfnis, dem „Seufzer der bedrängten Kreatur“ (K. Marx) Ausdruck zu verschaffen. Schöpfungscompassion zeichnet sich dadurch aus, dass sie aufgrund der Nähe, die sie zu Menschen, Tieren, Pflanzen und zu allem, was sie wahrnimmt, besitzt, nicht nur ein Wissen hat, sondern auch eine Erfahrung. Dadurch nehmen wir wahr, dass dieser Mensch nicht ein Alter Ego ist, sondern einen Eigennamen besitzt, mithin ein anderer ist, dass dieses Tier nicht bloß Vieh ist, dass diese Pflanze nicht bloß Gewächs ist, sondern dass dieser Mensch, dass dieses Tier, dass diese Pflanze etwas ist, das jeweils sein bzw. ihr Leben lebt. Unser Verhalten ist zerstörerisch, weil uns diese Erfahrung abhandengekommen ist.
Revolution für das Leben
Schöpfungscompassion gründet in einer widerständigen Trauer, die sich heute als Teil einer „Revolution für das Leben“ (E. v. Redecker) versteht. Diese Revolution will nicht zerstören, sondern retten. Sie kämpft für ein neues Verständnis von Eigentum. Eigentum steht hier nicht für Ware, nicht für Besitz im Sinne des Beherrschens. Es geht um eine „neue Beziehung zum Land“, in der dieses nicht als „Besitzobjekt“ erscheint, sondern als ein Territorium, das „immer schon geteilt [ist], und zwar mit allem, was darauf lebt und davon lebt“ (E. v. Redecker). Die Revolution für das Leben steht für die Befreiung des Verhältnisses zu diesem Territorium von jeglicher Sachherrschaft. Christ*innen hätten endlich aktiver Teil dieser „Revolution für das Leben“ zu werden. Dazu müssten sie jedoch die revolutionäre Dimension des Christentums neu entdecken.
Schöpfungscompassion versteht die Bewahrung der Schöpfung von der Neuschöpfung her. Die Apokalypse visioniert den neuen Himmel und die neue Erde und weist dabei auf die basale Bedeutung der Tränen hin: Gott „wird alle Tränen von ihren Augen abwischen“. Die Vision des Johannes gilt den Menschen, die trauern. Bereits 1986 warnte der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker davor, dass wir angesichts der „Gefahr, die Existenzbasis der Pflanzen, Tiere und Menschen im Ablauf einiger Jahrzehnte zu zerstören“, die Tränen nicht rechtzeitig weinen. Und er fuhr fort:
Die Zeit ist reif
„Tränen sind eine Gnade. Sie sind der Beginn des Trostes, der zu uns kommt, wenn wir gewagt haben, dem Schrecken in die Augen zu schauen. Solange wir den Schrecken verdrängen, leben wir in dem Krampf, in dem unsere scheinbar verständigen und entschlossenen Handlungen das Urteil herbeiführen, das sie unserer Vorstellung nach hätten verhindern sollen. Die Träne gibt die falsche Hoffnung auf, wir seien Meister unseres Geschicks. Sie eröffnet den Weg zur wachen Hoffnung auf das, was nicht in unserer Macht steht. Und damit macht sie uns frei zum wirklichen Handeln. Wir sehen dann das erste Licht des neuen Tags. Die Zeit ist reif.“
Dr. Jürgen Manemann
ist Direktor des von der deutschen Diözese Hildesheim getragenen „Forschungsinstituts Philosophie Hannover“ (fiph). Zuvor war der Theologe und Politikphilosoph Professor für Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie an der Universität Erfurt.
Zuletzt erschienen:
Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, transcript-Verlag, Bielefeld 2021.