Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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miteinander 3-4/2022
Was begehre ich aus tiefstem Herzen?
Es sind drei einfache Fragen, die den Weg zur eigenen Berufung erhellen können. Sie führen ins Innerste und zurück in die Welt, die es gerecht zu gestalten gilt.
Um herauszufinden, was wirklich dein tiefstes Begehren ist, wirst du einen Ort brauchen, an dem du ungestört allein sein und dir Zeit lassen kannst, um ganz still zu werden. Um innere Klarheit zu finden, ist Stille notwendig – in uns und um uns herum. Ein oft gebrauchtes Bild dafür ist trübes, aufgewirbeltes Wasser im Teich. In Stille wird es von selber klar. Du musst nichts tun, als zu warten, bis der Schlamm sich senkt, dann kannst du bis tief auf den Grund sehen. Stille ist auch unerlässlich, um die zarte Stimme des Herzens zu hören – die Stimme unseres tiefsten Begehrens. Begierden kommen und gehen. Um das bleibende Begehren unseres Herzens kennenzulernen, können wir uns also fragen: Wonach würde ich immer noch begehren, wenn all meine Begierden gestillt wären?
Die Antwort darauf wird uns zugleich auch klarmachen, was uns bleibend begeistert. Begeisterung im Sinne Campbells führt uns auf den Pfad des Helden, von dem der Mythos berichtet, dass er durch Todesschrecken gehen muss, um das begeisternde Ziel seines Begehrens zu erreichen. Nur was uns zum Äußersten bereit macht, ist unsere wahre Begeisterung; von ihr dürfen wir uns leiten lassen.
Was gibt mir das Leben?
Die zweite Frage, die uns helfen kann, unsere Berufung zu erkennen, betrifft unsere Begabung. Was hat das Leben mir gegeben, um es zielstrebig zu nutzen? So nüchtern wie möglich sollten wir das erwägen. Es kann ja vorkommen, dass wir einem bewunderten Vorbild nachstreben, das ganz anders begabt ist als wir selber. Auf unsere eigene Begabung aber kommt es an; auch sie ist einzigartig. Es fällt uns vielleicht schwer, an unsere Einzigartigkeit zu glauben. Aber selbst unsere Fingerabdrücke haben nicht ihresgleichen unter all den Milliarden von Mitmenschen. Wie viel mehr muss das gelten für das vielfältige Gemisch all dessen, was unsere Begabung ausmacht!
Dazu gehören auch Antrieb, Ausdauer und alles, was wir benötigen, um unsere Talente durch Übung zu verbessern. Ja, sogar unsere Mängel sind ein wichtiger Teil unserer Begabung. Sie können zum Ansporn werden, sie auszugleichen oder zu überwinden, und diese Bemühung entwickelt in uns eine moralische Kraft, die anderen fehlt, weil sie sich nie so anstrengen mussten. Auch Körperbehinderungen können auf ähnliche Weise zum Ansporn werden, gehören also auch zu dem, womit wir vom Leben beschenkt – begabt – wurden.
Begehren und Begabung
Auf unsere dritte Frage können wir erst antworten, wenn wir die beiden ersten beantwortet haben. Wir ahnen dann zumindest die Richtung unseres bleibenden Begehrens, in die unsere tiefste Begeisterung uns führen will. Und wir kennen unsere Stärken und Schwächen, die uns auf dem Weg dahin helfen oder uns behindern können. Das sind Voraussetzungen, um weiter zu fragen: Welche Gelegenheiten bietet mir das Leben, meinem Ziel näher zu kommen? In groben Umrissen werden wir diese Gelegenheiten vielleicht voraussehen können, während wir uns in Stille Zeit nehmen zu planen und Überblick über unsere Lage zu gewinnen. Wichtiger aber wird es sein, diese Frage immer wieder neu zu stellen.
Das Leben bietet uns jeden Tag und jede Stunde unzählige Gelegenheiten zur Auswahl an. Da heißt es, unser Begehren und unsere Begabung im Auge zu behalten. Nur im Hinblick auf sie werden wir Gelegenheiten erspähen, die wir sonst vielleicht übersehen hätten, jetzt aber unter den gegebenen Möglichkeiten auswählen. Alles kommt darauf an, auch unsere kleinsten Entscheidungen von unserer großen Ausrichtung bestimmen zu lassen.
Gesellschaft verändern
Mithilfe dieser drei Fragen eine Berufslaufbahn wählen zu können, ist freilich nur einem kleinen Prozentsatz junger Menschen geschenkt. Während diese sich oft überwältigt fühlen von der Überfülle der ihnen gebotenen Auswahl, haben weltweit die meisten überhaupt keine Wahl und müssen froh sein, wenn sie irgendeine Arbeit zum Lebensunterhalt finden. Wir müssen alles daran setzen, eine ungerechte Gesellschaftsordnung zu ändern, die auf diese Weise gegen die Menschenwürde verstößt. Und was können wir jungen Menschen sagen, die gar keine Chance der Berufswahl haben?
„Das Leben bietet uns jeden Tag und jede Stunde unzählige Gelegenheiten zur Auswahl an. Da heißt es, unser Begehren und unsere Begabung im Auge zu behalten.“
Bruder David Steindl-Rast
Geboren 1926 in Wien, studierte Kunst, Anthropologie und Psychologie in Wien und trat 1953 in das Benediktinerkloster Mount Saviour im Bundesstaat New York ein. Er engagiert sich seit den 1960-er Jahren im interreligiösen Dialog und stand in engem Kontakt mit Thomas Merton, Thich Nhat Hanh oder dem Dalai Lama, ist erfolgreicher Buchautor und Initiator des Netzwerks "Dankbar Leben" (www.dankbar-leben.org).