Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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miteinander 1-2/2022
Wir sprechen von einer Berufung, wenn jemand, gleichsam dazu aufgerufen, sich einem hohen Ideal verpflichtet – etwa bei hervorragenden Persönlichkeiten auf dem Gebiet von Kunst, Wissenschaft oder Politik. Aber jeder Mensch hat eine Berufung, nämlich die Aufgabe, zu der das Leben uns aufruft. Mit etwas Übung im Hinhorchen können wir bemerken, dass das Leben uns in jedem Augenblick etwas zuruft, aber auch eine Antwort von uns erwartet.
Das beginnt schon, wenn morgens der Wecker schnarrt. Meine Antwort kann sein, dass ich sofort aus dem Bett springe, ich kann aber auch warten, bis die fünf Minuten um sind, die mir der Schlummeralarm noch gewährt. Ja, ich kann sogar, allen Konsequenzen zum Trotz, einfach weiterschlafen. Was ich tatsächlich tue, wird es meist nicht verdienen, Antwort genannt zu werden, sondern nur gewohnheitsmäßige Reaktion sein. Viele Tätigkeiten im Alltag laufen ebenso automatisch ab.
Anstatt wie ein Roboter zu funktionieren, kann ich aber lernen, auf den Anruf jeden Augenblicks wach und bewusst zu antworten. Auch wenn ich tun muss, was ich tue – wie ich es tue, steht mir frei – mürrisch oder munter, zerstreut oder aufmerksam, abweisend oder freundlich, usw. Auf dieses Wie kommt letztlich alles an. Aus der Wahl des Was – insofern uns eine Wahl offensteht – ergibt sich nur die äußere Form. Das gilt für den Ablauf unseres Alltags, aber auch für den unseres ganzen Lebens.
Es gibt Augenblicke, in denen von der Antwort, die ich dem Leben gebe, der weitere Lebenslauf abhängt – etwa bei der Berufswahl. Wie kann ich dann so hellhörig und bereitwillig antworten, dass der Beruf, den ich wähle, meiner Berufung entspricht? Das kann zu einer quälenden Frage werden. Wir können uns die Beantwortung dadurch erleichtern, dass wir aus der einen Frage drei machen: Was ist mein tiefstes Begehren? Wozu bin ich besonders begabt? Und welche Gelegenheit bietet mir das Leben hier und jetzt, meine Begabung zu nutzen, um mein Begehren zu stillen? Wir wollen hier diese drei Fragen nacheinander erwägen.
Junge Menschen zur Zeit ihrer Berufswahl fragen mich oft: „Wie kann ich der Welt am besten dienen?“ Ihr hohes Streben macht mir Freude und ich möchte eine Antwort geben, die ihnen wirklich bei ihrer Entscheidung hilft. Da kann ich nichts Besseres tun, als eine Antwort zu wiederholen, die nicht von mir stammt. Als ein Student Howard Thurman (1899-1981) die dringende Frage stellte: „Was kann ich nur tun, um der Welt zu helfen?“ Da antwortete dieser weise Meister: „Tu’, was dir am meisten Freude macht. Die Welt braucht nichts dringender als Menschen, die alles, was sie tun, mit Freude tun.“ Der große Interpret des Heldenmythos, Joseph Campbell (1904–1987), gibt auf seine Weise den gleichen Rat, wenn er sagt: „Follow your bliss!“, was so viel bedeutet wie „Lass‘ dich von deiner Begeisterung leiten.“ Dabei ist freilich Begeisterung mehr als Nervenkitzel. Was uns Freude schenkt, ist nicht einfach das, was uns Spaß macht. Unser echtes Begehren sitzt tiefer als unsre Begierden.
„Mit etwas Übung im Hinhorchen können wir bemerken, dass das Leben uns in jedem Augenblick etwas zuruft, aber auch eine Antwort von uns erwartet.“
Bruder David Steindl-Rast
Geboren 1926 in Wien, studierte Kunst, Anthropologie und Psychologie in Wien und trat und 1953 in das Benediktinerkloster Mount Saviour im Bundesstaat New York ein. Er engagiert sich seit den 1960-er Jahren im interreligiösen Dialog und stand in engem Kontakt mit Thomas Merton, Thich Nhat Hanh oder dem Dalai Lama, ist erfolgreicher Buchautor und Initiator des Netzwerks "Dankbar Leben" (www.dankbar-leben.org).