Mag. Lukas Cioni
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miteinander 1-2/2022
Im Grunde muss man sagen, dass ich nach Studienbeginn – ich studierte Theologie – eine gute Zeit hatte. Ich merkte, dass andere Menschen auch über all diese Dinge nachdachten, über die ich nachdachte. Und doch war ich irgendwie auch einsamer in all dem, weil die Menschen um mich herum so vertraut mit Gott waren und so glücklich wirkten. Zumindest hatte es den Anschein, sie wären von einem gewissen Urvertrauen getragen – und ich war so anders. Irgendwie war da immer eine Nacht um mich. Es war also in gewisser Weise eine schwere Zeit, in der meine Zweifel an meiner Persönlichkeit stark zunahmen. Wieso war ich so?
Wenn ich ehrlich bin, habe ich sehr viele Menschen angelogen in dieser Zeit. Angelogen über mich, wer ich bin, was ich erlebt habe und was ich denke. Ich wusste auch nicht mehr, was ich wem erzählt hatte. Ich war unglücklich und musste mich verstecken. Mein Inneres hat rebelliert gegen mein Versteckspiel – ich wollte ja gleichzeitig auch gesehen werden, ich wollte von jemandem gesehen werden. Ich wollte von jemandem gesehen werden, der mich sieht und trotzdem liebt. Mein Pflichtgefühl und mein ausgeprägtes Bedürfnis zu helfen haben mich in dieser Zeit wohl vor mehreren Abgründen bewahrt. Jedenfalls habe ich ziemlich viel nur deswegen getan, um anderen Menschen zu gefallen.
So war es auch mit meinen ersten Schweigeexerzitien. Tatsächlich habe ich diese Exerzitien eher gemacht, um einen Studienkollegen zu beeindrucken. Die Woche fand in St. Andrä in Kärnten statt und sollte eine der herausforderndsten und wichtigsten Wochen meines Lebens werden. Dort angekommen, entwickelte sich eigentlich alles ganz gut und ich lernte, dass es offenbar ein wenig mehr Stille in meinem Leben bedurfte, damit ich bei mir selber ankomme. Jeden Tag ging es mit mir innerlich auf und ab wie auf einer Achterbahn. Im Nachhinein habe ich es mit Bungee-Jumping verglichen. Ich konnte mich gar nicht mehr einfangen, gar nicht aufhalten – es ging einfach rund in mir: Schmerz, Wut, Trauer, vergangene Momente und Erfahrungen kochten abwechselnd in mir hoch. Gleichzeitig erheiterte mich auch im Stillen diese Gebetsgruppe sehr und oft musste ich laut lachen – besonders bei den Mahlzeiten, die im Schweigen ja auch ein Stück peinlich waren. Ich war das alles einfach nicht gewohnt.
Gegen Ende der Woche wurde es ruhiger in mir. Wir hatten im Gespräch einiges geklärt, einige alte Konfliktherde angesehen und einige Beziehungen näher betrachtet. Wir waren auch schon auf mein mangelhaftes Gottvertrauen und auf mein geringes Selbstvertrauen gestoßen. Meine Begleiterin hat mir damals liebevolle Bilder von Gott nahegebracht und ich erinnere mich, dass ich weinen musste, weil sie mir so derart fremd waren. Aber im Weinen erkannte ich auch eine Sehnsucht. Da war tatsächlich eine Sehnsucht in mir, Gott näher zu sein. Ich merkte, dass ich in meinem Leben diesen christlichen, liebevollen Gott wirklich näher kennenlernen wollte – ich wollte ihn suchen, ob es ihn denn wirklich gäbe. Gibt es diesen Gott tatsächlich, der die Menschen so sehr liebt und sie so glücklich macht? Diesmal bekam ich als Gebetsstelle eine Perikope aus dem Johannesevangelium: Johannes 10,1–10.
Dann waren meine Gedanken irgendwo, nichts von mir wollte bei der Bibelstelle bleiben. Es war fast, als wehrte ich mich. „So“, sagte ich mir, „jetzt reiß dich aber mal zusammen! Das gibt’s ja nicht.“ Fest nahm ich mir vor, jetzt nicht abzudriften. In einigen Minuten fand ich mich innerlich an der Uni oder mit den Gedanken bei der Familie wieder. Und irgendwann, relativ unerwartet, war da etwas in diesem Satz: „Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden.“ Es lässt sich nicht so leicht beschreiben. Ich glaube auch gar nicht, dass ich es innerlich noch so genau fassen könnte, aber es war plötzlich anders. Ich fühlte mich freier und es stieg in mir sehr klar der Gedanke auf: „Mein Gott … Christus ist der Retter!“ Das alles war verbunden mit einem wunderbaren Gefühl. Natürlich wusste ich den Inhalt – rein theoretisch – schon vorher und es war nicht gerade eine total neue Erkenntnis. Aber sie war angekommen – irgendwo in meinem Herzen, wo sie vorher noch nicht war. Diese Kraft erstaunte mich nicht nur – sondern sie überraschte mich.
Es war eine so tiefe und schöne Erkenntnis, dass ich vom Hocker aufsprang und vor Freude kurz in meinem Zimmer hüpfen musste! „Unglaublich! Er ist der Retter, der Heiland, der Befreier!“, jubelte es in mir. „Der Befreier“, diese Worte klangen am längsten in mir nach. Und dann hielt ich abrupt inne. „Meine Güte, wenn er der Befreier ist, was bin denn dann ich?“ Ohne einen Moment zu überlegen, kniete ich mich wieder auf meinem Schemel hin – von dort war ja diese eindrückliche Erkenntnis gekommen –, um nach einigen Momenten des Atemholens wieder aufzuspringen: „Ich bin befreit!“
Diese Erfahrung war die stärkste Gebetserfahrung, die ich jemals hatte. Noch immer hat es eine eigene Kraft, überhaupt daran zurückzudenken. Noch immer bleibt das eigentliche Gefühl für mich unbeschreiblich. Und doch – es war auch im Nachhinein nicht nur einfach. Ich wusste, ich bin geliebt, und ich wusste, ich muss mein Leben wahrhaftiger leben. Vieles in meinem Alltag habe ich daraufhin geändert und dadurch auch Irritation hervorgerufen. Jesus Christus wurde mir zum festen Anker und Gott Vater wurde mir wieder neu einer, dem man wirklich vertrauen kann: Es war für mich eine echte Berufung zum Christsein.
PA Sr. Dr. Gertraud Johanna Harb
Geboren 1983, seit 2013 im Orden der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz (Kreuzschwestern), derzeit Seelsorgerin am Zentrum der Theologiestudierenden in Graz.