Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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miteinander 9-10/2024
Als „ehemalig“ wird es nun bezeichnet, mit Verweis auf das, was einmal war. Kein Wunder, scheint doch die Vergangenheit momentan das Einzige, was sich mit einiger Bestimmtheit sagen lässt. Die letzten Schwestern des hier ansässigen Ordens der Unbeschuhten Karmelitinnen sind vor einiger Zeit ausgezogen. Sie haben die Geschichte des Ortes gelebt und in ihn eingeschrieben, materiell wie immateriell. Was ich vorfinde, sind nur noch Spuren. Ich bewege mich durch Räume, die geräumt werden, finde unterschiedliche Ordnungen von Dingen. Solche, ndie noch nah am ursprünglichen Zustand scheinen. Andere, die Zwischen- und Neuordnungen darstellen.
Spannung im Alltag
Für meinen Blick ist vorerst alles neu. Ein Spannungsverhältnis tut sich auf: das Kloster als Ort, der im Werden begriffen ist, der naber doch primär im Gewesen-Sein begriffen nwerden will. Ein Ort, der geschaffen wurde, damit Menschen sich nach innen orientieren konnten, für Klausur und Kontemplation, und dem nun eine Öffnung nach außen abgerungen wird. Diese Spannung nüberträgt sich sogleich auf meinen Alltag. Was darf ich hier? Gibt es Sachen, die unangebracht sind? Schon immer, noch immer? Was brauche ich? Was darf ich brauchen? Ich stelle fest, dass sich die Fragestellungen verschieben, je nachdem, ob ich sie von außen hereintrage oder im Inneren formuliere, dass sich meine Einschätzungen nim Laufe der Zeit immer wieder ändern. Auch deshalb, weil Orte sowohl im physischen als auch im symbolischen Sinn gedacht werden können. Ich beziehe eine Zelle, richte mir einen Schreibplatz in der ehemaligen Novizinnenkapelle ein. Ich mache mich vertraut nmit dem Gebäude, seinen haptischen Eigenheiten nund Geräuschen. Manchmal seufzt eine Tür beim Öffnen und lässt sich dann partout nicht mehr ganz schließen, nimmer gibt die eine Bodenplatte unter meinem Schritt ein wenig mehr nach als sie sollte. Ich nehme an, das war nicht immer so. Aber wohl schon eine ganze Weile. Für die Zeit meines Aufenthalts jedenfalls noch. Der Ort ist geduldig mit mir. Und ich mit ihm. Das Kloster ist ein eigener Mikrokosmos, weiterhin. Ich blicke durch schräg gestellte Lamellen, von der einen nund der anderen Seite, öffne und schließe Fenster aus perforiertem Milchglas, drehe so lange an Winden, bis der Kreis sich einmal geschlossen hat. Perspektiven von Innen und Außen, Begrenztheit und Geschütztsein drehen sich ebenso. Bald wird das Klackern der Bodenplatten zu einer liebgewonnenen Melodie. Manche Türen, nämlich jene zur umliegenden Stadt, öffne ich immer seltener.
Transformieren lassen
Innerhalb des Gebäudes ist jede Tür mit einem Dreikönigssegen versehen, jeweils von der Jahreszahl 2023 gerahmt. Anfang 2023 war also noch jemand hier, so viel ist sicher. Da und dort stecken auch kleine Palmzweige. Sind sie von Ostern letzten Jahres? Findet sich eine jüngere Spur? Wie würde ich sie als solche erkennen? Ich könnte die Fakten natürlich recherchieren. Wahrscheinlich werde ich das noch tun. Viel reizvoller erscheint mir gerade aber der Schwebezustand, der vieles ein wenig im Ungefähren lässt – am Ort und in mir. Wie begleitet man also den Transformationsprozess eines Ortes? Vielleicht, indem man sich erst einmal selbst von dem Ort transformieren lässt.
Cornelia Hülmbauer
ist Autorin von Lyrik, Prosa und Essays. Sie studierte Anglistik und Kunstgeschichte sowie Sprachkunst und promovierte über europäische Mehrsprachigkeit. Zuletzt veröffentlichte sie 2023 den Roman „Oft manchmal nie“ im Residenz-Verlag.
Cornelia Hülmbauer: Oft manchmal nie. Residenz Verlag: 2023, ISBN: 9783701717705, € 24,00