Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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miteinander 7-8/2024
Als Charles Darwin im April 1832 zum ersten Mal den brasilianischen Regenwald betritt, wird ihm dies zu einer prägenden, ja, umwälzenden Erfahrung. „Es ist leicht, die einzelnen Objekte der Bewunderung in diesen großartigen Szenen zu benennen“, reflektiert er in seinem Tagebuch, „aber es ist nicht möglich, eine angemessene Vorstellung von den höheren Gefühlen des Staunens, der Verwunderung und der Hingabe zu geben, die den Geist erfüllen und erheben.“ Dann fasst er seine emotionale Erschütterung in einem Wort zusammen: „Hosianna!“
Von dem Küstenwald, der solch quasireligiöse Empfindungen bei dem britischen Naturforscher auslöste, ist heute nichts mehr übrig. Man muss Stunden ins Landesinnere reisen, um auf naturbelassenen Baumbestand zu stoßen. Verantwortlich dafür sind vor allem die Rodung und Umwandlung des Waldes in landwirtschaftliche und besiedelte Flächen. Das lebendig machende Wasser – es ist versiegt, teils Wüstenlandschaften gewichen. Als solches ist der Amazonaswald ein Paradebeispiel der globalen sozial-ökologischen Krise, die sich so oder ähnlich an unzähligen Orten der Welt offenbart.
Aufruf zur Metanoia
Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, wie sich die Menschheit zu einem alternativen, nachhaltigen Handeln motivieren könnte. In seiner Sozialenzyklika Laudato si‘ ruft Papst Franziskus zu einer ökologischen Umkehr auf, womit nicht weniger gemeint ist als eine spirituelle Metanoia – eine bewusste und in Demut vollzogene Hinwendung zu Gott. Man könnte sich so eine Umkehr als eine fundamentale Umorientierung existenzialer Sorge vorstellen. Nicht die Hoffnung auf persönliche Vorteile auf Kosten anderer darf unser oberstes Anliegen sein, sondern die Beziehung mit Gott, wie sie uns durch eine Erfahrung unser selbst in der Schöpfung bewusst werden kann und sich in unserem fürsorglichen Handeln unseren Mitgeschöpfen gegenüber zeigt.
„Jede Naturerfahrung ist somit immer auch eine Erfahrung des sich in dieser Natur offenbarenden zugrundeliegenden Geheimnisses, das wir Gott nennen.“
So gesehen wäre der Schlüssel für eine sozial-ökologische Transformation die persönliche Selbsterfahrung als Mitgeschöpf – als Teil einer Schöpfung, deren Wert nicht von unseren Bedürfnissen abhängt, sondern der ihr um ihrer selbst willen zukommt. Ob nun angesichts eines atemberaubenden Sternenhimmels, eines Strandspaziergangs oder umgeben vom tropischen Regenwald: Die unmittelbare Begegnung mit der Natur erfüllt uns mit unstillbarem Staunen.
Gotterfahrung in der Natur
Jede Naturerfahrung ist immer auch eine Erfahrung des sich in dieser Natur offenbarenden zugrundeliegenden Geheimnisses, das wir Gott nennen. Und genau hier kann den Glaubenden bewusst werden, dass dies Gottes Welt, Gottes Schöpfung ist, deren intrinsischer Wert für sie wohl letztlich unergründlich bleiben wird, nichtsdestotrotz stets Grundlage ihres Handelns sein muss.
Wer es zulässt, in der Begegnung mit der Natur so ergriffen zu werden, vollzieht unweigerlich die ökologische Umkehr, von der Papst Franziskus spricht, und macht das Leid der Welt zu seinem eigenen Leid (LS 19). Denn wer sich als Teil dieser Schöpfung erfährt, wer in der Erfahrung seines Selbst in der Welt seinen transzendentalen Grund erfährt, wer also in der Naturerfahrung dem wahren Sinn, Ursprung und dem Wohin des Seins begegnet, kann sich nicht länger der Trauer über den Verlust von biologischer Vielfalt, der anthropogenen Zerstörung des Klimas, der zunehmenden Verschmutzung der Weltmeere und all des damit verbundenen menschlichen Leids erwehren. Natürlich besteht die Gefahr, dass Trauer in Verzweiflung mündet, aber dem entgegen steht die hoffnungsvolle Erfahrung des sich in der unvermittelten Begegnung mit der Natur offenbarenden transzendenten Geheimnisses.
Am Beginn einer ökologischen Umkehr steht also zunächst die Wiederentdeckung unserer Mitgeschöpflichkeit. So wichtig Umweltgesetze, Steueranreize und neue Technologien sein mögen – sie alle sind nur dann wirklich effektiv, wenn sie einhergehen mit einer sozialen und ökologischen Umkehr. Wir sollten es Darwin gleichtun und uns von der Schöpfung ergreifen lassen – sei es im Regenwald, im Angesicht des bestirnten Himmels über uns oder durch einen sommerlichen Sprung in einen Bergsee voller lebendigen Wassers. In all diesen Erfahrungen finden wir nicht nur zurück zu Gott, sondern auch zu uns selbst.
Dr. Oliver Putz
ist Biologe und Theologe. Er lehrte mehr als 20 Jahre an verschiedenen Universitäten in den USA, u. a. als Professor für Religion und Naturwissenschaft. Derzeit ist er Fellow des „Forschungsinstituts für Philosophie“ in Hannover, das von der Diözese Hildesheim getragen wird. Dort arbeitet er zum Thema „Begegnung mit der Schöpfung: Integrale Naturerfahrungen als essenzieller Aspekt ökologischer Umkehr“.