Mag. Lukas Cioni
Redaktionsleiter / Chef vom Dienst
miteinander-Magazin
Stephansplatz 6
1010 Wien
Tel.: +43 1 516 11-1500
Sie haben eine neue Adresse? Schreiben Sie uns hier oder rufen uns unter DW 1504 an.
miteinander 7-8/2024
Ich schreibe Listen mit Todesdaten und Todesursachen auf Stoffstreifen und hänge sie mit anderen Freiwilligen rund um die Laurenzenkirche im Stadtzentrum von St. Gallen in der Schweiz auf. Es ist Weltflüchtlingstag und die Stoffstreifen dienen als Ersatz für Grabsteine, die es nicht gibt. Ich schreibe Sätze wie: „Am 10. Oktober 2022 wurde ein Baby tot vor der Küste von Zarzis in Tunesien gefunden, nachdem ein Boot Geflüchteter gekentert war. Behördenmitglieder vergruben das Baby heimlich im Sand.“
Chika Uzor, Seelsorger für Flüchtlinge und Migranten sowie Koordinator der Aktion, erklärt: „Damit protestieren wir gegen den sinnlosen Tod und setzen ein Zeichen für Solidarität.“ Die Flucht nach Europa ist lebensgefährlich, das Wasser des Mittelmeers wird oft zum Grab für Flüchtlinge. „Kein Staat will helfen, die Toten aus dem Mittelmeer zu identifizieren, die oft schon in unkenntlichem Zustand sind“, so Uzor.
„Es gibt ein Interesse, die Toten möglichst unsichtbar zu halten“
Religionswissenschaftlerin Daniela Stauffacher erforschte, was mit den namenlosen Toten passiert, die an die Küsten Italiens gespült werden oder sich in Fischernetzen verfangen. Sie sah Nummern auf verwitterten Kartonschildern und erfuhr, wie Priester vor Ort die Toten rasch segneten. Manche Fischer warfen Leichenteile aus Angst vor behördlichen Untersuchungen zurück ins Meer. „Es gibt ein Interesse, die Toten möglichst unsichtbar zu halten“, sagt Stauffacher. Das werde jedoch den Hinterbliebenen nicht gerecht. „Wer keinen Totenschein hat, kann nicht Abschied nehmen und auch keine Witwenrente beziehen“, fügt sie hinzu.
Namenlose Gräber
Ortswechsel nach Italien: Sizilianische Gräber sind Denkmäler, die den Reichtum und das Ansehen der Familie zeigen. Wer sich keinen kleinen Tempel leisten kann, begnügt sich mit einer Nische. Im verschlafenen Fischerdorf Pozallo auf Sizilien werde ich fündig: „Sconosciuto“, italienisch für „Unbekannt“, ist in den sandfarbenen Verputz eingeritzt. Verstohlen lege ich drei Nelken am Grab ab. Das Grab des Unbekannten steht in Gegensatz zur darunterliegenden prächtigen Grabplatte in Gold und Marmor.
Bei einem anderen Grab steht neben der Nummer C28 ein Name: Abdouaziz. Der arabische Vorname bedeutet „Diener des Allmächtigen“. Ich stelle mir vor, wie hier ein Überlebender dafür gesorgt hat, dass der Name seines ertrunkenen Freundes nicht in Vergessenheit gerät – und dem namenlosen Opfer einen Namen gab.
Chika Uzor
ist Theologe und Seelsorger für Flüchtlinge und Migranten.