Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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miteinander 3-4/2024
Nachts draußen obdachlos
Am Boden liegend, im Schlafsack, umgeben von Sträuchern: Ich fühlte mich immer unwohl, wenn ich im Freien schlafen musste. Aufgezeichnet von Lukas CIONI
Mein Name ist Susanna, ich bin 61 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Wien-Favoriten als Nesthäkchen unter vier Geschwistern. In meiner Kindheit wurde ich umsorgt und als „Papakind“ verwöhnt. Meinen Ehemann lernte ich in Jugendjahren kennen und bekam einen Sohn. Als Reinigungskraft arbeitete ich für die Gemeinde Wien, musste den Job aber 1995 aufgrund von Knoten in der Brust aufgeben. Zudem wurde mein Mann spielsüchtig und alkoholabhängig. Es kam zu Mietrückständen, unbezahlten Rechnungen und die 1989 erstmals festgestellte Krebserkrankung meines Mannes sowie seine spätere Arbeitsunfähigkeit erschwerten die finanzielle Lage. Das fehlende Einkommen führten 2005 zur Delogierung – und dann waren wir obdachlos.
Um etwas zu bitten fällt mir bis heute schwer, daher habe ich nie gebettelt. Wir schliefen bei Freunden oder unter freiem Himmel, etwa auf der Donauinsel. Eine Zeit lang lebten wir immer wieder auf der Straße. Vor allem nachts fürchtete ich mich. Wenn ich heute von Übergriffen auf Obdachlose lese, erinnert es mich immer daran. Gewaschen haben wir uns in WC-Anlagen oder bei unserem jüngsten Sohn, der uns temporär aufnahm. Trotz des Alltags, der geprägt war von Hunger, Scham und der Schlafplatz-Suche, erinnere ich mich an viele Gesten der Nächstenliebe zwischen Obdachlosen. Rückblickend kann ich sagen: Selbst wenn man wenig hatte, wurde geteilt und Freundschaften sind entstanden.
Durch das P7, eine Anlaufstelle der Caritas für Wohnungslose, wurde uns 2008 eine Wohnung im „neunerhaus Kudlichgasse“ vermittelt. Leider brach 2010 bei meinem Mann erneut der Krebs aus und er starb 2014 am Tag seines 53. Geburtstags und nach 30 gemeinsamen Ehe-Jahren. Danach war ich allein und mit Schulden und Kreditraten konfrontiert.
Nur durch die Unterstützung des „neunerhaus“ und speziell durch die Hilfe meines Sohnes schaffte ich es, mich aufzurappeln und beantragte Privatkonkurs. Heute bin ich schuldenfrei, zahle pünktlich meine Miete und lebe mit meiner geliebten Yorkshire-Terrier-Hündin „Sky“. Ich glaube an mich und bin stolz auf mich und auf das, was ich in den letzten Jahren erreicht habe.
Susanna
ist 61 Jahre und Bewohnerin des „neunerhaus Kudlichgasse“ im zehnten Bezirk. Zwei Jahre lang war die Mutter eines Sohnes mit Unterbrechungen obdachlos.
Aus dem Rotlichtmilieu
Mein Traumberuf war eigentlich Sängerin. Doch als Kind war ich viel allein, meine Mutter auf Dienstreisen. Mit elf Jahren begann mein Vater mich sexuell zu missbrauchen. Da geriet mein Leben aus den Fugen. Aufgezeichnet von Ines SCHABERGER
Zweimal lief ich von zu Hause weg und schloss mich einer Mädchenbande an. Ich begann zu stehlen und Valium zu schlucken. Mit 22 Jahren geriet ich in die Prostitution, zuerst bei einer Begleitagentur, dann lernte ich einen Mann kennen, der mich in eine einschlägige Bar brachte. Er war in gewisser Weise mein Freund, ich war jedoch emotional von ihm abhängig. Er vermittelte mich an Bordelle nach Eisenstadt, Oberösterreich, Salzburg und Spanien. Durch ihn kam ich in Berührung mit harten Drogen wie Kokain. Die Beziehung endete, als er mich schlug.
„Mir geht’s eh gut“, war meine Antwort, wenn mich jemand fragte. „Ich habe mir diese Arbeit freiwillig ausgesucht.“ Einige Zeit stand ich am Straßenstrich am Gürtel. Wenn ehemalige Arbeitskollegen vorbeikamen, stand ich extra aufrecht da und zeigte mich – aus heutiger Sicht mit falschem Stolz. Heute würde ich nicht mehr sagen, dass Prostitution eine Arbeit ist. Denn eigentlich hatte ich keine Hoffnung in dieser Zeit. Ich rauchte fünf Joints täglich und lebte in einer Parallelwelt. Ich hatte resigniert und hätte mich wohl zu Tode gekokst. Mein Glück war, dass ich mit 28 Jahren schwanger wurde. Ab da verkaufte ich nur mehr Haschisch und Marihuana. Als meine Tochter ein Jahr alt war, wurde ich verhaftet. Das war mein Lichtblick: Langsam kämpfte ich mich zurück ins Leben. Mit Gelegenheitsjobs und später einem Privatkonkurs versuchte ich meine Schulden zu schmälern.
Chris, mein damaliger Freund aus Nigeria, nahm mich in einen katholisch-afrikanischen Gottesdienst mit – ausgerechnet in die Kirche, in der ich viele Schulgottesdienste erlebt hatte. Da schloss sich für mich ein Kreis. Denn die Geschichten von Jesus hatte ich als Kind geliebt. Heute bin ich Mitglied einer charismatischen Freikirche. Bevor ich 2015 „Hope for the Future“ (Hoffnung für die Zukunft, HFTF) gründete, absolvierte ich eine zweijährige christliche Ausbildung für Führungskräfte. HFTF fördert Personen, die von Menschenhandel bzw. Prostitution betroffen sind, bietet Deutschkurse und Nähworkshops an, hilft bei der Jobsuche und der Integration in den Arbeitsmarkt in Kooperation mit einem Seminarhotel in Niederösterreich. Ohne meine Geschichte würde es diesen Verein nicht geben.
Andrea
geriet mit 22 Jahren in die Prostitution. 2015 gründete sie den Verein „Hope fort he Future“ und fördert seither Personen, die etwa von Menschenhandel, Missbrauch oder Prostitution betroffen sind.
Aus dem Hellen in das Dunkle
Harald Fiedler ist erblindet und zeigt seinen Alltag, der sich von jenem der Sehenden manchmal kaum unterscheidet. Aufgezeichnet von Christopher ERBEN
Die Glocke läutet. "Ich komme gleich", rufe ich. Mit schnellen Schritten eile ich zur Eingangstür, denn in meinem Haus kenne ich mich blind aus. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn meine Wohnung hat viele Räume. Daher dauerte es auch lange, bis ich mich darin orientieren konnte und wusste, wo sich alles befindet. Mit 17 Jahren wurde bei mir sowohl Retinitis Pigmentosa als auch Makuladegeneration (MD) diagnostiziert, die zum vollständigen Verlust meiner Sehfähigkeit führte. Heute kann ich nur mehr zwischen Licht und Schatten, Hell und Dunkel unterscheiden.
Nicht nur die Medizin, auch meine Krankheit macht Fortschritte. Das ist mir bewusst. Für mich ist es daher normal, nichts mehr zu sehen und den Alltag trotzdem gut zu bewältigen. Über die „Alexa“ steuern meine Frau und ich zum Beispiel in jedem Raum das Licht. Lebensmittel bestelle ich entweder online über Supermarkt-Apps oder, wenn ich im Supermarkt bin, frage ich dort nach Unterstützung. Auch kaufen wir viel über Lieferservices ein. Zusätzlich haben wir eine persönliche Assistenz, die uns im Alltag immer wieder zur Seite steht. Herausfordernd wird es nur dann, wenn ich alleine unterwegs bin und mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren muss. Obwohl ich beim Ein- und Aussteigen manchmal Unterstützung brauche, gehen die meisten Menschen wie blind an dir vorüber.
Mit jeder Beeinträchtigung im Alltag wird dein Leben zur Behinderung. Inklusiv kann daher nur ein Leben ohne Einschränkungen sein. Für mich war es, als ich von den Erkrankungen erfahren habe, sehr schwer, weil ich immer Landwirt werden und nicht in einem Büro arbeiten wollte. Trotzdem lernte ich, mit diesem Schicksalsschlag umzugehen. Vor Jahren zog ich mit meiner Frau aufs Land und genieße hier mein Leben: Ja, heute blicke ich zufrieden in die Zukunft und schwimme mit dem Strom und manchmal auch gegen ihn.
Harald
ist 54 Jahre alt, verheiratet und lebt in Wien und Niederösterreich. Schon seit Jahren führt er Schulklassen durch die Ausstellung Dialog im Dunkeln, die seit November in der Seestadt Aspern ihre neue Bleibe hat. In Schulungen und Workshops sensibilisiert er Kinder und Jugendliche für die Situation von blinden und sehbehinderten Menschen. Auch testet er Websites hinsichtlich ihrer Barrierefreiheit, vertont etwa Filme, indem er die Audiodeskription spricht – zuletzt einen von Autor Daniel Glattauer.