Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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miteinander 7-8/2023
Einer der Orte, auf den viele Pilgerinnen und Pilger sehnsüchtig warten, wenn sie Israel das erste Mal bereisen, ist die Grabeskirche in der Jerusalemer Altstadt. Der Ort, an dem viele hoffen, etwas Besonderes zu erspüren. Ein Ort, mit dem viele Erwartungen verbunden sind. Hat man doch viele Jahre die Passionsgeschichten wieder und wieder gehört, studiert, vielleicht auch selbst gesungen. Die Auferstehungsberichte prägen unsere Vorstellungen von Ostern. Viele Bilder vom leeren Grab, Maria Magdalena, dem auferstandenen Christus oder einem Mann in strahlend weißem Gewand haben in uns ein Bild davon geschaffen, wie wir uns den Ort der Auferstehung Jesu vorstellen.
Die Grabeskirche allerdings trifft diese Vorstellung nur bei den wenigsten. Viele Menschen, die sich einen Ort der Besinnung erwarten, sind enttäuscht, wenn sie diesen Ort betreten, der förmlich vibriert von den Massen an Touristen und Pilgerinnen, die sich vom Salbungsstein zum Rest des Golgotahügels unter einem Altar hin zur Auferstehungsrotunde, in der die Tradition das Grab Jesu verortet, schieben. Das hat wenig mit der Grabhöhle, womöglich in einem ruhigen Garten, zu tun, die man sich vielleicht am Weg nach Jerusalem ausmalt.
"Am besten, man lässt so viele Erwartungen wie möglich zu Hause und bleibt offen für das, was auf einen wartet."
Ballast abwerfen
Ich meine jedoch, dass genau diese „Enttäuschungen“ eine Stärke des Reisens sein können und unseren Blick weiten. Als Neutestamentlerin unterlege ich das gern mit der Erzählung der Aussendung der Zwölf, wie sie bei den Synoptikern vorkommt (Mt 10,5–15//Mk 6,7–13//Lk 9,2–6): Jesus schickt die Zwölf aus, um zu verkünden und zu heilen. Sie sollen nichts mitnehmen, was man normalerweise auf eine Reise mitnehmen würde. Kein Gewand zum Wechseln, keinen Proviant, kein Geld, bei Matthäus und Lukas auch keinen Wanderstab, der zur Verteidigung dienen könnte. Sie sollen darauf vertrauen, dass sie wohlwollend aufgenommen und versorgt werden. Die offensichtliche Lehre für uns daraus könnte natürlich sein: Lasst uns bedenken, mit welchem überflüssigen Ballast wir durch unser Leben und auch auf Reisen gehen, und neu überlegen, was davon wirklich notwendig ist oder worauf wir womöglich verzichten können.
Die noch interessantere Perspektive scheint sich mir jedoch bei denen zu ergeben, die auf diese reisenden Jüngerinnen und Jünger treffen. Ihnen begegnen hungrige, durstige, womöglich streng riechende Personen ohne Gewand zum Wechseln, ohne Geld und ohne festen Wohnsitz – und das sollen jetzt diejenigen sein, die die Botschaft vom Reich Gottes bringen? Das entspricht sicher nicht den Erwartungen, die viele Menschen davon hatten oder auch heute haben, wie sich die Botschaft des Reiches Gottes präsentiert. Wenn wir etwas
über Gott hören, dann heute auch eher in Kirchen, von Personen, die in speziellen liturgischen Kleidern vor uns stehen, in einem Umfeld, in dem doch viele noch Wert darauf legen, „ordentlich angezogen“ in Gottesdienste zu gehen.
"Und das ist möglicherweise etwas, womit man nicht gerechnet hat: Begegnungen, Beobachtungen, Eindrücke, die ganz anders sind als das, was wir zu kennen glauben."
Eine Frage für mich, die sich aus diesem Text heraus ergibt, ist: Sind wir offen für das Wort Gottes, wenn es in unser Leben kommt? Vor allem, wenn es in einer ganz anderen Form vor uns auftaucht, als wir uns das vielleicht erwartet haben. Ohne Geld, ohne Essen, ohne zweites Gewand. Erkennen wir die Zeichen der Zeit? Schaffen wir es, unsere Erwartungen hinter uns zu lassen und uns mit offenen Sinnen auf das einzulassen, was uns in der Welt begegnet? – Und damit ist die Verbindung zum Reisen geschaffen. Wenn die ganze Welt Gottes Schöpfung ist, dann können wir überall etwas über Gott und seine Beziehung zu uns lernen. Gerade auch an den Orten, die unsere Erwartungen enttäuschen oder die uns unerwartete Begegnungen bringen.
Besonders mitgeben möchte ich diesen Hinweis natürlich allen, die in der kommenden Reisesaison womöglich das erste Mal nach Jerusalem kommen und dort die Grabeskirche besuchen. Am besten, man lässt so viele Erwartungen wie möglich zu Hause und bleibt stattdessen offen für das, was tatsächlich an den Orten auf einen wartet. – Und das ist möglicherweise etwas, womit man nicht gerechnet hätte. Begegnungen, Beobachtungen, Eindrücke, die ganz anders sind als das, was wir kennen oder zu kennen glauben.
Eine Stadt wie Jerusalem und ein Ort wie die Grabeskirche, die seit Jahrtausenden so viele Menschen anziehen, haben viel zu erzählen. Es sind nur meistens nicht die Geschichten, die wir uns zu Hause ausmalen. Das gilt gleichermaßen natürlich für jeden Ort, den wir erfahren, und seien es die Wege, die wir schon viele Male gegangen sind. Womöglich lassen uns jedoch gerade die unerwarteten Begegnungen, Beobachtungen und Eindrücke ein ganz kleines bisschen mehr davon verstehen, wie sich Gott uns in seiner Welt zeigt.
ist Universitätsassistentin (praedoc) im Bereich Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.