Mag. Lukas Cioni
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miteinander 1-2/2024
„Alles hat seine Zeit“ – so lautet ein berühmtes Wort aus dem Buch Kohelet (3,1–8.17). Fast schon abgedroschen wirkt es, wenn man es in einem christlichen Magazin liest. Es klingt wie ein Ratschlag, den man sich auch selbst geben kann – und wer nimmt sich schon die Zeit, einen Ratschlag bis zum Ende durchzudenken? Ich tue das selten genug. Also lade ich Sie ein, die nächsten Minuten mit mir dieses biblische Wort einmal im größeren Kontext zu reflektieren.
Der Mensch ist das einzige Wesen, das keine Zeit hat, weil es sich seiner Zeit bewusst ist. Die Möglichkeit, Kontrolle über die Zeit zu übernehmen, verleitet uns dazu, terminiert, mit Datum und Uhr ausgestattet, unser Leben nach dem Lauf der Sonne und des Mondes auszurichten – und zu wissen, dass uns diese Zeit eines Tages ausgehen wird. Also rückt das Ende bedrängend nahe und die Gegenwart muss bestmöglich genutzt werden – eine Idee, die besonders im Spätkapitalismus verbunden ist mit Konsumzwang, Selbstoptimierung und der Angst, etwas zu verpassen.
Alle Zeit der Welt
Die Bibel nähert sich dem Kalender hingegen aus einer völlig anderen Richtung. Im ersten Schöpfungsbericht (Gen 1,1–2,4a) erschafft Gott die Welt. „Ja genau – und das in nur sieben Tagen, superproduktiv!“ mag eine erste Reaktion sein. Doch wenn man genauer im Text liest, lässt sich Gott alle Zeit der Welt. Denn erst durch den Wechsel von Licht und Dunkelheit, durch die Wiederholung des Phänomens an Tag 2, entsteht überhaupt erst ein wahrnehmbarer Zeitlauf. An Tag 3 erschafft Gott dann die Himmelslichter, um durch sie den Kalender mit seinen Festtagen zu bestimmen. Und schließlich, an Tag 7, dem Sabbat, hält Gott Ruhe, die Schöpfung steht für sich selbst.
Gott erschafft also mit dem Kalender keinen Zeitdruck, im Gegenteil: Die Zeit ist notwendig, damit die Jahreszeiten ablaufen können, damit die Pflanzen ihr Wachstum und die Tiere ihre Zeit der Fortpflanzung verstehen können. Es gibt die Phasen für Tag und Nacht, den einen zur Ruhe, den anderen zur Aktivität. Und dann erschafft Gott als Höhepunkt eine reine Ruhephase; die erschaffene Welt ist so gut, dass wir uns an ihr erfreuen können, ohne einzugreifen oder noch mehr oder anderes zu tun. Im Judentum wird der Sabbat daher als Tag der Schöpfungsruhe verehrt und ist der höchste Feiertag. Im Christentum haben wir die Sonntagsruhe, die uns einlädt, nicht einkaufen gehen oder dem Beruf nachgehen zu müssen – dieser Tag soll ein Tag der Freude an der Schönheit der Welt sein, in welcher wir ihren Schöpfer verehren können.
„Die Ordnung der Zeit dient dabei stets dem gelingenden Leben des Menschen und soll ihn nicht zwingen, alles aus ihr herauszupressen.“
Durch die Erzählung der Ursünde (Gen 3) kommt dann die Dimension des Todes hinzu, eine Zäsur im Leben des Menschen. Sie ist eine Konsequenz des menschlichen Tuns – doch sie bedeutet nicht, dass wir vorher nicht hätten sterben müssen, sondern, dass wir uns bewusst werden, dass unsere Zeit ablaufen wird. Die Bibel bearbeitete diese Erfahrung weiter und versucht die geordnete Zeit auf den Alltag und das Leben zu übertragen (z. B. Hygieneregeln in Lev; Festkalender, Meditationen in Ps 90,10 oder die Einführung des Ruhejahres in Lev 25).
Ordnung und gelingendes Leben
Die Ordnung der Zeit dient dabei stets dem gelingenden Leben des Menschen und soll ihn nicht zwingen, alles aus ihr herauszupressen. Wenn dies aber geschieht, etwa wenn die Reichen die Armen ausbeuten, die Felder zu oft bestellen oder Menschen „vor ihrer Zeit“ töten (z. B. Koh 7,17), gerät die Zeit aus den Fugen. Die Konsequenzen sind Hungersnöte, soziale Unruhen, Flucht oder Seuchen. Die schmerzhafteste Erfahrung ist dabei die Zeit im Babylonischen Exil. Eine theologische Begründung ist dabei, dass man die Sabbate und Sabbatjahre ignoriert hat und deshalb dem Land diese Zeit ersetzt werden muss (2 Chr 36,21).
Gerade das Neue Testament kennt aber auch eine Zeit des Gerichts, d. h. eine Zeit, in welcher geprüft wird, was die Friedenszeit der Welt verletzt hat. Geprägt von endzeitlichen Texten wie Dan 8,19–26; 12,1–4 finden sich auch in den Worten Jesu klare Ansagen. Während es bei Matthäus stark darum geht, das Richtige zu tun, sobald wir sehen, dass wir gebraucht werden, fragt der lukanische Jesus einmal seine Zuhörenden, weshalb sie zwar das Wetter an den Wolken ablesen können, nicht jedoch die Zeichen der Zeit sehen und verstehen können (Lk 12,56).
Von der erfüllten Zeit
Auf der anderen Seite gibt es eine richtige Zeit für alles, d. h. mit Geduld und Timing kann man den richtigen Zeitraum oder Zeitpunkt ergreifen. Das Erkennen des richtigen Moments ist etwas sehr Individuelles, für eine Person, eine Gruppe und bei globalen Phänomen für die Menschheit. Die Bibel nennt es „als die Zeit erfüllt war“, „die Stunde“ oder „die Zeit ist gekommen“ (Jer 25,34; Jer 27,7; 51,33; Ez 7,13) und spricht dort zumeist prophetisch.
Intensiver denkt der Apostel Paulus im Römerbrief über Zeit nach. Für ihn ist klar, dass die „gegenwärtige Zeit“, also das Menschenzeitalter, auf sein Ende zugeht und wir jetzt an der Reihe sind, unseren Schöpfungsauftrag zu erfüllen: Wir sollen uns aus dem Schlaf der Trägheit erheben, die Erde bzw. die Welt so einrichten, dass sie bereit ist für die Gottesherrschaft, die bereits angebrochen ist (Röm 3,26; 11,5; 13,11). Die Geduld Gottes verwendet Paulus dabei in Röm 3 in Anlehnung an die Gnadenrede Ex 34,6 und mahnt an anderer Stelle, dass Gott selbst entscheidet, wer am Aufbau des Reiches Gottes mitgewirkt hat und in welcher Intensität (1 Kor 4,5). In der Offenbarung schließt die Bibel mit dieser Hoffnung auf ein finales Eintreffen Gottes in der Person des erlösenden Sohnes: „Komm, Herr Jesus“ (Offb 22,20).
Wenn die Zeit nach der göttlichen Ordnung verläuft, gibt es keinen Zeitdruck und keine Not. Der Tod ist Teil des Lebens ebenso wie der Tag und die Nacht, die Zeit der Ernte und die Wärme des Sommers. Wenn wir in unserer Zeit und Welt jedoch Zeichen wahrnehmen, die uns zum Eingreifen mahnen, bevor ein Lebewesen vor seiner Zeit sterben muss, bevor wir uns ausplündern (lassen), gilt das Wort: Erhebe dich vom Schlaf, damit du dich am Sabbat der Schöpfung (noch) erfreuen kannst.
Priv.-Doz. Dr. Benedikt J. Collinet
ist Projektmitarbeiter am Institut für Historische Theologie und Bibelwissenschaften an der Universität Innsbruck und Pastoralassistent i. A. der Diözese Innsbruck.