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Unsere Themen im Jahr 2015

Der erste Schritt

Oft werden wir vom Leben überrascht – etwa wenn es zu Gesten der Versöhnung kommt. Unerwartetes bricht herein, manchmal überraschend Positives.

 

Wir standen etwa drei Meter voneinander entfernt. Es war der Tag nach einer heftigen Rauferei am Schulhof, in deren Verlauf ich meinem körperlich weit überlegenen Schulkollegen aus der Parallelklasse mit dem Ellbogen unabsichtlich einen Schneidezahn ausgeschlagen hatte. Daraufhin wurde ich von einigen befreundeten Mitschülern und dem hinzustürzenden Lehrer vor der Rache des tobenden Betroffenen in Sicherheit gebracht. In einem persönlichen Brief hatte ich dem Kontrahenten zwar Entschädigung und Frieden angeboten, so wie ich ihn kannte, durfte ich von ihm jedoch kein Entgegenkommen erwarten, sondern ein für mich schmerzhaftes Nachspiel.

 

 

Und nun war sie überraschend da, die früher oder später unausweichliche Begegnung, Aug in Aug: Auf einem entlegenen Gangabschnitt des weitläufigen Schulgebäudes stand ich dem Mitschüler, in dessen Gebiss noch eine ziemlich frische Zahnlücke klaffte, plötzlich gegenüber und musste ernstlich befürchten, nun Opfer eines Racheakts zu werden. Da machte mein Gegner einen großen Schritt auf mich zu, während ich mich innerlich verzweifelt bereits auf meine körperliche Verteidigung vorbereitete. Zu meiner Verblüffung streckte er mir aber die offene Hand entgegen, die ich zögerlich ergriff. Er lächelte und ich merkte, wie sehr sich alles seit dem Vortag verändert hatte – sein erster Schritt in dieser Begegnung war der Beginn einer Freundschaft.

 

Glück und Gnade

Es war eine erhoffte, aber von meiner Seite völlig unerwartete Versöhnung. Als Schüler erlebte ich diese unvergessliche Begegnung als unverdientes und überraschendes Glück, als zuvorkommende „Gnade“. Mit einem einzigen Schritt und einer wehrlosen Geste meines Gegenübers kam von einem Augenblick zum andern für mich alles Belastende wieder in Ordnung.

 

Vielleicht ist mir diese Erfahrung aus meiner Schulzeit auch deshalb so tief in Erinnerung geblieben, weil sie in einer Spannung, ja im Kontrast zu weithin verbreiteten Erwartungen und Prägungen steht. Wie oft hörten wir schon als Kinder: „Wenn Du dies und jenes tust, dann passiert das und das.“ Diese vorgegebenen Muster von Ursache und Wirkung begleiten uns, auch als Erwachsene. Sie scheinen wie ein unumstößliches Gesetz, das uns umfassend zu verstehen gibt, wie angeblich unser ganzes Leben „funktioniert“. Und gerade im zeitlichen Vorfeld von Weihnachten, im Advent, erlebe ich manchmal, dass auch heute noch zu Kindern gesagt wird: „Wenn Du nicht brav bist, dann kommt das Christkind nicht.“

 

Friede im Kommen

Aber gerade so ist Weihnachten nicht – im Gegenteil: Weihnachten geht genau umgekehrt. Wenn Gott nämlich mit seinem ersten Schritt darauf gewartet hätte, dass wir Menschen zuerst „brav“ sind, dann gäbe es gar kein Weihnachten – Jesus Christus, der Sohn Gottes, wäre nicht „für uns Menschen und zu unserem Heil vom Himmel gekommen“, wie es im Großen Glaubensbekenntnis heißt. Dann wäre die Menschwerdung Gottes nie geschehen, die wir zu Weihnachten feiern. Gerade weil wir Menschen nicht „brav“ waren, hat Gott den ersten Schritt gemacht, uns seine Hand entgegengestreckt und damit eine Freundschaft angefangen. Deshalb haben die Engel in Bethlehem das Gloria angestimmt und den Frieden ausgerufen. Gott kommt uns zuvor, aus Liebe und Gnade, die wir nie verdienen können. Wo Menschen in diese Bewegung Jesu, des Herrn, einsteigen und den ersten Schritt machen, ist dieser Friede im Kommen.

 

Richard Tatzreiter

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