Mag. Lukas Cioni
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miteinander-Magazin
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Das Verzeihen ist ein außergewöhnlicher Akt. Verzeihen heißt dem Wort nach: Verzicht auf Vergeltung. Das Verzeihen bricht folglich mit einer Logik, die für uns fundamental ist: Wie du mir, so ich dir. Wer verzeiht, verzichtet auf die Begleichung einer Schuld. Und die große Frage ist natürlich, wie es dazu kommt.
Meine Mutter hat die Familie verlassen, als ich 14 Jahre alt war. Den Kontakt zu uns Kindern hat sie nicht gehalten. Ich habe sie mitunter jahrelang nicht gesehen und nicht gesprochen.
Der Kontaktabbruch. Die Unmöglichkeit, das Geschehene gemeinsam aufzuarbeiten. Es herrschte ein großes Schweigen. Der Weggang meiner Mutter war ein gesellschaftlicher Skandal, denn eine Frau verlässt nicht ihre Familie. Ein Mann, der geht, ist ein Egoist. Eine Frau, die geht, ist krank. Das ist die gesellschaftliche Logik, die sicher mit dazu beigetragen hat, dass wir keine Worte fanden für das, was passiert war.
Weil sie ihren Frieden finden und nicht länger Opfer sein wollen. Weil sie sich selbst und auch dem anderen, der sich schuldig gemacht hat, ein neues Leben schenken möchten. Das Verzeihen ist eine Entbindung, eine Entbindung von Schuld - eine Neugeburt. Aber es wäre falsch anzunehmen, dass das Verzeihen etwas sei, das man planen, gar instrumentell einsetzen kann im Sinne von: Ich will mein Seelenheil wiederherstellen, also verzeihe ich jetzt. Das Verzeihen entzieht sich einer solchen Um-Zu-Logik. Ihm wohnt Ereignishaftes, Unverfügbares inne.
Das kommt ganz auf den Fall an. Man kann sich ja auch vorstellen, dass ein Mensch schwere Schuld auf sich geladen hat, aber diese Schuld überhaupt nicht sieht. Für einen solchen Menschen ist das Verzeihen gar nicht wichtig, im Gegenteil: Er empfindet es als Angriff, dass überhaupt unterstellt wird, es gäbe etwas zu verzeihen.
Ein Mensch, dem etwas angetan wird – etwa durch eine Vergewaltigung – fühlt sich radikal entwertet, ja, er denkt gar, er sei selbst schuld oder habe es nicht anders verdient.
Wer versteht, warum ein Mensch auf eine bestimmte Weise gehandelt hat, kann die Tat ein Stück weit von sich wegrücken, die Schuld des anderen erscheint weniger monströs. Das hilft sehr. Doch führt das Verstehen in den meisten Fällen ja nicht dazu, dass dem Täter jede Schuld abgesprochen wird: Er hätte in letzter Konsequenz auch anders handeln können. Gerade hier wird das Verzeihen virulent: Nur wo eine Schuld vorliegt, stellt sich die Frage des Verzeihens.
Das Eingeständnis institutioneller, aber auch individueller Schuld ist für die Opfer natürlich fundamental. Problematisch wird es meines Erachtens, wenn Institutionen beziehungsweise deren Repräsentanten dieses Eingeständnis mit der Bitte um Verzeihung verknüpfen. Das bekommt dann schnell den Ruch einer Reinwaschung. Man kann ja auch zur eigenen Schuld stehen, ohne sofort die Absolution der Opfer haben zu wollen. Das wäre aus meiner Sicht der richtige Weg.
Man muss über Liebe sprechen. Die Liebe steht in engster Beziehung zum Verzeihen, denn auch die Liebe bricht mit der Tauschwertlogik. Denken Sie an das Hohelied der Liebe im ersten Korintherbrief: "Die Liebe ist langmütig und freundlich… sie rechnet das Böse nicht zu … sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles." Damit ist das hohe Ideal des Verzeihens sehr präzise benannt. Auch die Prozesshaftigkeit verbindet die Liebe mit dem Verzeihen. Beides ist nie ein für alle Mal besiegelt. Es muss sich zeigen. Tag für Tag.
Das Interview führte Elisabeth Grabner
Dr. Svenja Flaßpöhler, Studium der Philosophie, Germanistik und Sport, ist promovierte Philosophin und stellvertretende Chefredakteurin des "Philosophie Magazin". Seit 2013 ist sie außerdem Literaturkritikerin in der Fernsehsendung "Buchzeit" (3-Sat) und Mitglied der Programmleitung des Philosophiefestivals phil.COLOGNE.
Literaturtipp:
Svenja Flaßpöhler: Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld, Deutsche Verlags-Anstalt, 2016 (ISBN: 978-34210446-3)
Erschienen in: "miteinander" | Jahrgang 2016 | Ausgabe Oktober/November
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