Mag. Lukas Cioni
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Schuld ist ein komplexes Phänomen. Einerseits wird sie verdrängt, weil ein heute oft vorherrschender Unschuldswahn diese Frage als überkommenes Problem der Vergangenheit abtut oder sie dämonisierten Gegner zuschiebt, die erbarmungslos bekämpft werden müssen. Andererseits lässt sich Schuld gar nicht ohne weiteres auf einen Nenner bringen, wenn wir genauer auf die Kultur- und Religionsgeschichte der Menschheit blicken.
Urtümlichen Kulturen war der Umgang mit Schuld zu tiefst vertraut und prägte ihre Riten und religiösen Vorstellungen. Jeder Tod eines Menschen führte zur Suche eines Schuldigen, der dafür verantwortlich sein müsste. Tod und Schuld waren so sehr miteinander verstrickt, dass das vom Tod nicht abzutrennende Leben selbst als unausweichlich schuldbeladen erschien. Wir können Spuren dieses archaischen Schuldverständnisses in Anaximanders ältestem philosophischem Fragment des Westens entdecken, wenn er dort heißt, dass alles Entstehen bestraft und gebüßt werden müsse.
Goethe spielt auf dieses Schuldverständnis in seinem Harfnerlied im Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre an, in dem er eine Unvermeidlichkeit von Schuld festhält:
Ähnliche Einsichten finden sich in Goethes Faust: Alles, was entsteht, / Ist wert, dass es zugrunde geht. Sigmund Freuds Religionstheorie ist ganz von dieser Unausweichlichkeit der Schuld geprägt. Der Vater der Psychoanalyse verbindet seine Einsicht in die Unausweichlichkeit der Schuld mit seiner These vom Todestrieb. Der Altphilologe Walter Burkert schloss in seinem Buch Homo necans an Freud an und zeigte auf, dass schon das Töten in der Jagd Schuldgefühle entstehen ließ, die nur durch rituelle Opfer gesühnt werden konnten.
Unabhängig von Burkert aber zeitgleich entwickelte der französisch-amerikanische Kulturanthropologe René Girard seine These vom Sündenbockmechanismus, nach der archaische Religionen aus der Tötung eines zufällig ausgewählten Opfers zur Überwindung von inneren Stammeskrisen hervorgingen. Ödipus wird die Verantwortung für die Pest in Theben zugeschoben und aus der Stadt verstoßen, aber gleichzeitig damit auch schon zu einer Art von Gottheit erhoben, dessen Grabstätte der Stadt großen Segen bringen wird.
Für uns moderne Menschen ist das archaische Schuldverständnis nur schwer zu verstehen und moralisch inakzeptabel. Hier werden Probleme, die das Zusammenleben aller Menschen prägen, willkürlich auf einzelne Menschen abgeschoben, um dadurch ein gewisses Maß an Ordnung herstellen zu können. Was bisher als archaisches Schuldverständnis skizziert wurde, hat mit unserem heute gebräuchlichen Begriff von Schuld nur sehr wenig zu tun, denn der moderne Begriff setzt persönliche Einsicht und Verantwortung voraus. Die archaische Welt der Schuld aber kennt keine individuelle Verantwortung, sondern spiegelt bloß unbewusste kollektive Mechanismen.
Der dänische Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard hat den Unterschied zwischen archaischem und christlichem Schuldverständnis auf den Punkt gebracht, als er festhielt, dass "der Begriff Schuld und Sünde im tiefsten Sinne im Heidentum nicht hervortritt". Ähnlich erfasste auch der jüdische Philosoph Walter Benjamin diese Differenz, indem er zwischen einem natürlichen und einem moralischen Schuldbegriff unterschied. Der natürliche Schuldbegriff gehört zum Heidentum: "Soviel heidnische Religionen, soviel natürliche Schuldbegriffe. Schuldig ist stets irgendwie das Leben, die Strafe an ihm der Tod." Davon unterscheidet er den moralischen Schuldbegriff, der für das Judentum typisch ist: "Jüdisch: nicht das Leben, sondern allein der handelnde Mensch kann schuldig werden."
"In der biblischen Offenbarung kommt es zur Aufdeckung des Sündenbockmechanismus, weil eine Gruppe von Verfolgern ihr eigenes schuldhaftes Verhalten erkennt, sich bekehrt und ihr Opfer rehabilitiert."
René Girard hat mit seiner mimetischen Theorie den Unterschied zwischen archaischem und biblischem Schuldverständnis besonders überzeugend herausgearbeitet. Wenn in den archaischen Mythen moralische Schuld überhaupt zur Sprache kommt, so ist sie immer die Schuld jenes Opfers, das vertrieben oder getötet wurde. Alle Schuld lastet auf dem Sündenbock, während die Meute der Verfolger keine Schuld kennt und sich immer für unschuldig hält.
Erst in der biblischen Offenbarung finden wir demgegenüber ein ganz anderes Verhältnis zur Schuld. Dort kommt es zur Aufdeckung des Sündenbockmechanismus, weil eine Gruppe von Verfolgern ihr eigenes schuldhaftes Verhalten erkennt, sich bekehrt und ihr Opfer rehabilitiert. Das bedeutendste Beispiel dafür sind die Jünger Jesu – besonders Petrus –, die erst dann fähig wurden, das Sündenbockdenken aufzudecken, als sie erkannten, wie sie sich selbst an der Zusammenrottung gegen Jesus beteiligten, als sie zu zweifeln begannen, wegliefen oder ihn verleugneten. Erst im biblischen Denken finden wir jenen Gedanken der Schuld, der ein Aufdecken des Sündenbockmechanismus möglich gemacht hat.
Voraussetzung für die biblische Perspektive ist allerdings die vorausgehende Erfahrung der vergebenden Gnade Gottes, die erst die Einsicht in das eigene Versagen ermöglicht. Die Erzählung über die verhinderte Steinigung der Ehebrecherin im Johannesevangelium kann diesen Zusammenhang verdeutlichen. In ungebrochener Selbstgerechtigkeit – ohne jedes Schuldgefühl – zerrten Schriftgelehrte und Pharisäer eine auf frischer Tat ertappte Ehebrecherin in die Mitte des Volkes, um sie zu steinigen. Jesus wurde mit seinen Worten "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein" (Joh 8,7) zum Gnadenangebot, das die Verfolger zur Umkehr bewegte. Vereinzelt verließen sie den Platz und verzichteten auf Gewalt. Es geht hier um die Überwindung der Rache, des Vergeltens und des Verurteilens. Obwohl Jesus die Schuld der Ehebrecherin nicht unter den Teppich kehrt, verurteilt er sie nicht und ermöglicht ihr so, ihre Schuld anzunehmen.
An diesem Beispiel zeigt sich eine allgemein wichtige Voraussetzung für das biblische Schuldverständnis: Erst die Schuldvergebung – erst die Gnade der Erlösung – ermöglicht das Erkennen und die Einsicht in die eigene Schuld. Das entsprechende Erlebnis für die Jünger fand zu Ostern statt, als der auferstandene Jesus in ihre Mitte trat und sie mit den Worten "Friede sei mit euch!" (Joh 20,19) begrüßte. Jesus verurteilte nicht ihr Zweifeln, ihre Flucht oder ihr Verleugnen, sondern ermöglichte durch sein Verzeihen, dass sie sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst wurden und diese auch annehmen konnten. In dieser Gnadenerfahrung wurzelt letztlich die biblische Aufdeckung des Sündenbockmechanismus. Die letzte Antwort auf die Frage der Schuld ist uns aber in der Überwindung des Todes verheißen. Erst die Erlösung vom Tod befreit uns aus jenen Verstrickungen, die uns zur Jagd auf Sündenböcke antreibt und zur Abschiebung von Schuld antreibt.
Wolfgang Palaver
Dr. Wolfgang Palaver ist Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck.
Erschienen in: "miteinander" | Jahrgang 2016 | Ausgabe Oktober/November
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